Lange Zeit ist Angela Merkel vorgeworfen worden, sie habe in der Flüchtlingspolitik keinen Plan B. Inzwischen ist er längst da. Und nun könnte es schon wieder damit vorbei sein. Plan A hatte die Überschrift „Wir schaffen das“ und zielte europaweit auf die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte aus der alten Bundesrepublik. Diese hatte Millionen von Flüchtlingen, Übersiedlern und Gastarbeitern aufgenommen und daraus große Vorteile gezogen.
Diesmal klappte es nicht. Keineswegs alle europäischen Länder waren in den vergangenen Jahrzehnten Wachstumszentren, die Zuzug gut gebrauchen konnten. Dort wurde Einwanderung als unangenehmer Zugriff auf ohnehin schmale Ressourcen verstanden, und dies auch noch auf deutsches Diktat hin. Manche, vor allem im Süden, hatten seit Jahrzehnten eine eigene Immigrationsgeschichte und waren vom Norden im Stich gelassen worden. Die Behauptung, Europa sei eine „Wertegemeinschaft“, sagte offenbar nicht allen das Gleiche. Man konnte es lediglich als Markt mit einigen Transferfunktionen sehen, plus der Freiheit, weiterhin nationale und religiöse Sitten und Gebräuche gegen Fremde zu verteidigen.
Schlimmer noch: Merkel musste zu ihrem Schrecken feststellen, dass die Bundesrepublik, die sie seit 2005 regierte, vielleicht gar nicht mehr „ihr Land“ war. Das Wachstum, in dem einst Zuwanderer untergebracht wurden und zu dem diese dann selbst so kräftig beitrugen, war längst flacher geworden. Die Angst, davon auch noch etwas abgeben zu sollen, nährte Wohlstandschauvinismus, Pegida, die AfD sowie Seehofers Torschlusspanik. Es gibt eine Fernsehszene, in der die Kanzlerin in ihrer neuen peinlichen Lage vorgeführt wurde: Auf dem CSU-Parteitag neben dem bayerischen Ministerpräsidenten stehend, musste sie sich an dem Mikrofon, in das sie gerade ihre Grußworte gesprochen hatte, sagen lassen, was sie alles falsch mache.
Doch es kam Rettung: der Plan B. Entworfen und praktiziert wurde er von Viktor Orbán, anderen südosteuropäischen Staaten, schließlich vom Österreicher Werner Faymann: die Schließung der Balkanroute. Das hieß auch Stopp des Zustroms nach Deutschland.
Allerdings hätte dies auf Dauer das Ende des Schengen-Raums bedeutet und somit auch des letzten Zwecks der ganzen europäischen Übung, des freien Verkehrs von Gütern und Menschen. Damit die Grenze wieder dorthin kam, wo sie zu sein hatte, musste ein partiell außereuropäischer Komplize her: Tayyip Erdoğan. Hielt er den Zustrom auf, konnte die alte deutsch-europäische Idylle restauriert werden. Die Flüchtlinge würden dann, wie bisher, vor allem im Mittelmeer ertrinken. Aber das hatte die deutsche Mehrheitsgesellschaft vorher ja auch nicht gestört. Vielleicht gelang es Frontex, mehr Menschen als früher abzufangen und zu ihren Fluchtursachen zurückzuspedieren. Die Rechnung ist indes zynisch und passt nicht zum unschuldsvollen Image der Kanzlerin. Geht sie doch auf, dann nützt es ihr.
Dafür wird Erdoğan belohnt: mit sechs Milliarden Euro für die Türkei und Visafreiheit für ihre Bürger. Dies knüpft die EU an insgesamt 72 Bedingungen, darunter die Liberalisierung von Ankaras Anti-Terror-Gesetzen. Erdoğan weigert sich. Dass er den Premier Davutoğlu, der den Vertrag mit der EU ausgehandelt hat, aus dem Amt drängte, mag vorzugsweise innenpolitische Gründe haben, ist aber zugleich ein Signal an die EU: Er sitzt am längeren Hebel. Kommt die Visafreiheit nicht, lässt er die Flüchtlinge auf den Norden los.
Auch für diese neue peinliche Lage der Kanzlerin gibt es ein Fernsehdokument: Als sie in der Rolle der Bittstellerin nach Ankara kam und sich aufs Besuchersofa setzte, blieb Erdoğan, der sie wohl längst begrüßt hatte, stehen und streckte ihr noch einmal die Hand hin. Sie musste aufspringen wie ein Schulmädchen, das noch nicht ganz etikettesicher ist, und Shakehands demonstrieren. Einige Forderungen vorrangig aus dem EU-Parlament nach Erfüllung der 72 Forderungen lesen sich wie ein Eintreten für die Menschenrechte. Darin liegt die besondere Infamie: Würden die Forderungen erfüllt, wäre das ein Ablenkungsmanöver, das die inhumane Abweisung der Flüchtlinge deckt.
Da Plan A nicht durchsetzbar ist, muss Merkel an Plan B festhalten, vielleicht mit Varianten. Gibt Erdoğan nicht nach (warum sollte er?), wird statt der Türkei Griechenland zum Internierungscamp für Flüchtlinge. Oder man sieht sich die Anti-Terror-Gesetze so lange an, bis sie in günstigerem Licht erscheinen. Der türkische Europaminister Volkan Bozkır gab bereits Interpretationshilfe: Sie entsprächen internationalen Normen, sie aufzuheben, sei ursprünglich nicht Teil des Deals gewesen. Falls die Widerspenstigkeit im EU-Parlament zu groß wird, mag auch deutscher Druck auf schwächere Partner versucht werden.
Die klammheimliche Hoffnung, so könnten in Deutschland die Zustände aus der Zeit der Merkel-Hegemonie wiederhergestellt werden, dürfte trügen. Der Rechtstrend hatte nämlich schon vor der Flüchtlingskrise begonnen. Freilich könnte die Kanzlerin auch diese veränderte Konstellation moderieren. Vielleicht ab 2017 mit neuen Regierungspartnern und dann nicht mehr als Eiserne Lady der Griechenlandkrise und als Mutter Teresa der Flüchtlingsdramen, sondern als Frau ohne Eigenschaften. Mag sein, dass ihr das schon immer am liebsten war.
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