Auch Souveränität kommt abhanden

Eurokrise Nicht nur die ­europäische Grundierung der deutschen Politik steht zur Disposition – sondern auch das Konzept des Nationalstaats

Als Außenminister Guido Westerwelle in einem TV-Interview erklärte, die deutsche Beteiligung am Wirtschaftsboykott Libyens habe doch auch zum Sturz Muammar al-Gaddafis beigetragen, verursachte dies so viel Aufregung, dass andere, grundsätzlichere Argumente, die er bei dieser Gelegenheit vortrug, beinahe untergingen. Er sagte, zwar gehöre die Bundesrepublik zum Westen, aber sie müsse sich auch anderen internationalen Kraftfeldern zuwenden.

Wer immer wieder einmal argwöhnte, Deutschland könne sich – wie schon einmal zwischen 1871 und 1945 – erneut als das ungebunden agierende Reich in der Mitte aufführen, hätte die Ohren spitzen können. Wo hatte Westerwelle – sonst nicht als ein außenpolitischer Stratege bekannt – das überhaupt her? Gerade im Zusammenhang mit Libyen ist zutreffend auf die Übereinstimmung Westerwellles mit Kanzlerin Angela Merkel hingewiesen worden. Wie verhält es sich bei der Europa-Politik?

Augenblicklich wird der schwarz-gelben Koalition das Fehlen einer Europa-Strategie vorgehalten. Man hatte sich in Deutschland lange daran gewöhnt, dass es eine solche gibt. Und das schon in Zeiten, da Europa-Politik um reiner Expansion willen betrieben wurde.


In seinem Kriegszielprogramm vom September 1914 legte der Reichskanzler Bethmann Hollweg folgenden Plan vor, der durch Denkschriften von Wirtschaftsinteressenten und geopolitisch schwadronierenden Intellektuellen inspiriert war: „Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.“

Das scheiterte 1918. Gustav Stresemann – im Ersten Weltkrieg ein Annexionist und Siegfriedens-Politiker – wurde nach der Niederlage zum Europäer. Die Verständigung mit Frankreich sollte es Deutschland ermöglichen, sich von den größten Lasten des Versailler Vertrags zu befreien und wieder gleichberechtigt zu werden – Westbindung im nationalen Interesse. Hitler spekulierte – letztlich vergeblich – darauf, dass Frankreich und Großbritannien ihm (freiwillig oder notgedrungen) freie Hand im Osten ließen. Adenauer knüpfte dort an, wo Stresemann aufgehört hatte, auch jetzt wieder nach einer Kriegsniederlage. Nur durch Integration in ein geeintes Europa (und Bindung an die Vereinigten Staaten) konnten die Gleichberechtigung der Bundesrepublik und die Zurückdrängung der Sowjetunion gelingen. Auch hier: Europa als Mittel zum nationalen Zweck.

Helmut Kohl wollte nicht nur als großer Europäer, sondern auch als Patriot gesehen werden. Die Bedenken des französischen Präsidenten Mitterrand Ende 1989 und das Eifern der britischen Premierministerin Thatcher gegen die Wiedervereinigung noch 1990 zeigten ihm, dass sich an den alten Bedingungen, die für Stresemann und Adenauer galten, nichts geändert hatte – vorerst zumindest: Nur als integrierter Teil Europas sollte das neue Gesamtdeutschland verstanden werden. Garantien dafür waren der Vertrag von Maastricht und der Euro.

Druck des einheimischen Populismus

In der Folgezeit stellte sich allerdings heraus, dass der so hergestellte Verbund durch sein wirtschaftlich stärkstes Mitglied zumindest indirekt dominiert wurde. Waren aus der Bundesrepublik überschwemmten den Euro-Raum, Kredite wurden in hohem Maße bei deutschen Banken aufgenommen. Schöner hätten sich auch Bethmann Hollweg und seine Vordenker dies nicht wünschen können.

Mittlerweile könnte die Sache aber zu teuer werden, nämlich dann, wenn immer mehr Schuldner-Länder in der Eurozone gestützt werden müssen. Die Kanzlerin bremst und zieht sich den Vorwurf zu, nicht europäisch genug zu sein. Letztlich muss sie immer wieder nachgeben, gerät dabei aber unter den Druck eines einheimischen Populismus, dessen Wortführer beklagen, das geschehe zu Lasten des deutschen Staatshaushalts. Wenn Merkel diesen Stimmungen Rechnung trägt, indem sie den ärmeren Ländern Spar-Bedingungen stellt, die sich an der Politik der Schuldenbremse orientieren, erscheint dies als Diktat. Helmut Kohl klagt, die gegenwärtige Regierung mache ihm „sein“ Europa kaputt. Nähme die Kanzlerin tatsächlich keine Rücksicht auf außenpolitisches Porzellan, könnte sie ihm antworten: Dieses alte Europa benötige man doch gar nicht mehr. Sein Zweck: Emanzipation Deutschlands von den Bedingungen, die ihm zwei Weltkriege auferlegt hatten, sei erreicht. Dass aus der erstrebten Gleichberechtigung letztlich eine Art Übergröße wurde, sei halt ein unbeabsichtigter Kollateralschaden oder -nutzen.

Eine hübsche Idee

Diese Unterstellung ist freilich ungerecht. Sie setzt ökonomische Souveränität eines Nationalstaates – Deutschland – voraus, die er gegen seine Nachbarn geltend mache. Das Diktat über Griechenland wird jedoch von einer internationalen Instanz exekutiert: der Troika, bestehend aus dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission. In diesen Gremien hat die Bundesrepublik Gewicht, aber sie nicht allein. Im Übrigen ist die Troika selbst ein ausführendes Organ. Das Reden vom Sachzwang der „Märkte“ weist darauf hin und verschweigt zugleich eine Adresse: im Institute of International Finance sind unter Vorsitz von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann die 400 weltweit mächtigsten Banken und Versicherungen zusammengeschlossen. Auf seine Lobby-Arbeit wird zurückgeführt, dass ein Schuldenschnitt unterblieb, der den großen Geldhäusern hohe Verluste gebracht hätte.

Vom Rückfall in die Nationalstaatlichkeit kann also nicht die Rede sein. Die vage „Wirtschaftsregierung“ von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy besteht in Wirklichkeit schon, und sie ist handfest. Auch die Judikative funktioniert. Vor der Urteilsverkündung in Karlsruhe wurde vermutet, die Klage gegen die Euro-Rettungspakete werde wohl verworfen, andernfalls komme es zu Kursstürzen. Das Urteil fiel aus wie erwartet. Danach zeigten sich die Börsen gnädig, nämlich, wie zu lesen war, „erleichtert“.

Ursula von der Leyens „Vereinigte Staaten von Europa“ wären unter den bestehenden Voraussetzungen wohl ein Staat der Finanzindustrie. 2003 veröffentlichten Jacques Derrida und Jürgen Habermas ein Manifest für ein Europa der Werte. Falls es die Auguren der „Märkte“ überhaupt zur Kenntnis genommen haben, lächeln sie vielleicht: das sei doch wirklich einmal eine hübsche Idee.

Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und schreibt im Freitag vor allem zu zeitgeschichtlichen Themen

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