Die lehrreichste Prognose ist die Fehlprognose. Trifft nicht ein, was wir erwartet haben, dann zeigt sich, dass wir eine Situation unzureichend wahrnahmen. Die Korrektur ist immer interessant. Trifft unsere Prognose aber zu, haben wir eine langweilige Zeit erlebt: nichts Neues.
Umfragen und die Erwartungen der veröffentlichten Meinung für die Bundestagswahl 2002 sehen zur Zeit die SPD vorn und die CDU/CSU als sichere Verliererin. Der früheste Schwarzseher für die eigene Partei war 1998 der bayerische Ministerpräsident Stoiber. Als er in der Wahlnacht gefragt wurde, ob er der nächste Kanzlerkandidat der Union sein wolle, winkte er ab: In der Bundesrepublik seien Machtwechsel auf mehrere Legislaturperioden angelegt. Die Wahlergebnisse 1999 schienen ihm Unrecht zu geben. Mit ihrem Finanzskandal aber wurde die CDU dann doch von ihrer Oppositionsrolle eingeholt. Er führte nicht eine neue Niederlage herbei, sondern besiegelte die alte. Einen darüber hinaus gehenden Schaden hat er der CDU nicht zugefügt. Langfristig hat er ihr vielleicht sogar genützt, indem er sie zu einem personellen Revirement zwang, das allerdings erst zur Hälfte vollzogen ist: Die Alten sind abserviert, die richtigen Neuen aber sind unter Umständen noch nicht gefunden. Koch in Hessen und der Generalsekretär Meyer in Berlin demonstrieren, mit welcher Devise die Partei wieder nach vorn kommen will: Frechheit siegt. Die Union greift weit nach rechts aus und gibt damit ihrer älteren Neigung nach, sich aus dem extremen Potenzial außerhalb des Verfassungsbogens zu bedienen. Merz' Reden von der »Leitkultur« dient nicht dem Ziel, von heute auf morgen wieder mehrheitsfähig zu werden, sondern soll die eigene Truppe festigen. Falls sich irgendwann - wohl erst nach 2002 - die Peinlichkeiten der Rotgrünen summiert haben werden (die Erinnerung an Amtszeit und Pension des einstigen Kulturstaatsministers Naumann mag dazu ge hö ren), kann wieder vorgerückt werden. Die Vorsitzende Merkel allerdings passt nicht so recht zu dieser Strategie. Das macht sie zur Übergangsfigur, wahrscheinlich bis zur Bundestagswahl.
Nunmehr hat die Regierung ihre Sacharbeit im Wesentlichen abgebrochen und geht anderthalb Jahre auf Werbetour für sich selbst. Was bis zur Hälfte der Legislaturperiode nicht geschafft wurde, bleibt liegen: mit Sicherheit die Gesundheitsreform. Vor allem kommt es jetzt darauf an, Wahlgeschenke zu machen. Hierzu gehört die Entfernungspauschale. Sie ist ein schönes Beispiel dafür, dass konzeptionelle Stimmigkeit ab sofort noch weniger gilt als vorher. Die Entlastung für Berufspendler sollte Auswirkungen der steigenden Mineralölpreise dämpfen. Inzwischen wird der Sprit aber wieder billiger, ohne dass die angekündigte Maßnahme gestoppt würde. Man spricht von einem ökologischen Lenkungseffekt, weil die Teilnehmer am Öffentlichen Personen-Nahverkehr stärker subventioniert werden als die Automobilisten. Aber deren Pauschale ist jetzt ebenfalls höher als vorher, sie fahren billiger, auch wenn sie ihren PKW ebenso oft benutzen wie früher. Deshalb ist die Ökosteuer in Wirklichkeit von ihrem ursprünglichen umweltpolitischen Zweck weiter entfernt als je. Sie ist endgültig ausschließlich eine Subvention für die Unternehmer: Deren Beiträge zur Rentenversicherung werden zu einem - wenngleich kleinen - Teil durch den Aufschlag aufs Benzin ersetzt. Dies dürfte die Beliebtheit der Regierung bei den Paten in der Wirtschaft festigen - trotz Riesters Plan zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes. Der gehört zur Wahlkampfstrategie der SPD: Nach einigen neoliberalen Zumutungen soll ein Teil der traditionellen Klientel wieder eingebunden werden.
Das sozialdemokratische Behagen wird durch die Aussicht erhöht, bei der nächsten Regierungsbildung mit mindestens zwei Bewerbungen potenzieller Partner rechnen zu dürfen. Vielleicht reicht es sogar zu einer Wiederauflage der - für die SPD insgesamt komfortableren - bisherigen Kombination. Von einem bevorstehenden Untergang der Grünen redet gegenwärtig jedenfalls niemand mehr. Der Jugoslawienkrieg von 1999 ist ihnen - entgegen dem damaligen Anschein - gut bekommen: Er scheuchte grauhaarige Bedenkenträger in die Versenkung, und in die so frei werdenden Positionen rückten ganz junge Leute nach, die nicht verstehen, weshalb einige der Älteren sich noch auf dem Bielefelder Parteitag so zierten. Lohnende Ziele bleiben sichtbar: Ein Grüner wurde Vorsitzender der Gewerkschaft ÖTV, und die Partei durfte erstmals erfolgreich einen Richter am Bundesverfassungsgericht vorschlagen.
Die sich ankündigende Langeweile könnte allenfalls dadurch gestört werden, dass Politik mittlerweile stark Börsencharakter angenommen hat. Da geht es rauf und runter wie mit Dax und Nasdaq, und wahrscheinlich aus dem gleichen Grund: Die Kurven geben nicht die Basistrends von Wirtschaft und Gesellschaft wieder, sondern Augenblicks-Ausschläge. Im Kampf um Einschaltquoten, Auflagen und Werbeeinnahmen werden die milliardenschweren Gewerbebetriebe der Medien für Spannung sorgen wollen und deshalb ihre eigenen Fakten zu schaffen suchen.
Die eher beschauliche Vorhersage gilt deshalb zunächst nur bis März. Dann beginnt ein kleiner Zyklus von Kommunal-, Landtags- und Bürgerschaftswahlen. Sollte sich dabei zeigen, dass inzwischen - sozusagen hinter unserem Rücken - die Gewichte der deutschen Politik sich wieder verschoben und unsere Prognose entwertet haben - macht nichts: dann stellen wir eben eine neue auf.
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