Nun hat die SPD es hinter sich: eine Serie vorhergesagter Niederlagen bei Landtagswahlen, dazu noch eine unerwartete, damals in Schleswig-Holstein. Die Ankündigung Münteferings und Schröders, Neuwahlen im Herbst anzustreben, ist wahrscheinlich der Versuch, den Zerfall der Partei abzuwenden, ohne ihren Kurs ändern zu müssen. Das wiegt mehr als das hohe Risiko, aus der Regierung auszuscheiden - 2006 wäre es wahrscheinlich auch nicht besser gewesen.
Stellen wir uns einen Moment vor, was geschähe, wenn Schröder bis nächstes Jahr an der Macht festhielte, die er der Sache nach ohnehin nicht mehr hat.
Mit der Agenda 2010 kann er keine Wahl gewinnen. Zu einer Änderung ist er offenbar nicht bereit. Ausharren hätte unter diesen Bedingungen zu heftigen innerparteilichen Kontroversen geführt. Hier war das Auftauchen Lafontaines an der Spitze einer Wahlalternative zu fürchten. Durch seinen Austritt aus der SPD hat er nun einen entscheidenden Schritt in diese Richtung getan. Für den Erfolg eines solchen Manövers ist die Zeit aber denkbar knapp geworden. Die vorangegangene Entscheidung der sozialdemokratischen Führung hat Lafontaine gleichsam die Vorfahrt genommen.
Müntefering nötigt nun die SPD zur Geschlossenheit - auf Schröders Linie. Als er Vorsitzender wurde, sagte er, dies sei nahezu das schönste Amt, darüber gebe es nur den Papst. Das heißt: jetzt, da die Regierung nicht mehr zu halten ist, ist die Partei wichtiger als das Kanzleramt.
Der Preis ist für das Land höher als für die SPD. Siegen CDU/CSU und FDP, bedeutet dies eine Außenpolitik an der Seite Bushs, neue Atomkraftwerke, weitere Schwächung des Kündigungsschutzes und der Flächentarifverträge, Abbau der Unternehmensmitbestimmung, entschlossenere Schleifung der Sozialversicherungen, vielleicht sogar den schnellen Ruin der Gewerkschaften - insgesamt eine Zäsur wie in Großbritannien der Machtantritt Margaret Thatchers 1979.
Dies wäre Grund genug für einen Lagerwahlkampf. Münteferings Kapitalismuskritik erweist sich insofern im nachhinein als ein Wahlkampfthema nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern auch für Berlin. Angesichts der bisherigen Regierungspraxis ist die Glaubwürdigkeit eines solchen Manövers aber gleich Null.
Außerdem mangelt es mittlerweile auch schon an Masse. Die Austritte aus der SPD seit Schröders Regierungsantritt und die Schwäche der Gewerkschaften signalisieren den Unternehmern, dass das Kalkül, Sozialabbau könne von einer schwarz-gelben Regierung nicht durchgesetzt werden, inzwischen überholt ist. Sie fürchten keinen wirksamen Widerstand mehr. Auch hier gibt es eine Parallele zu Großbritannien 1979: Die Position von Labour und der Gewerkschaften war schon ausgehöhlt, bevor sie fiel.
In den nächsten Monaten wird Rot-Grün gegen den Eindruck ankämpfen müssen, dass ein Regierungswechsel die logische Folge des eigenen Handelns wäre. Erinnern wir uns: Im Winter 2002/2003 war Schröder einem propagandistischen Trommelfeuer ausgesetzt, das marktradikale Reformen zum Ziel hatte. Er antwortete im März 2003 mit der Agenda 2010. Sie trug ihm das Lob des BDI-Präsidenten Rogowski ein. Proteste der Gewerkschaften und des linken Parteiflügels wurden ausgesessen. Hartz IV traf Stammwähler der SPD besonders hart: Lohnabhängige, die jahrzehntelang zur Arbeitslosenversicherung beigesteuert haben und beim Verlust ihres Jobs nur kurze Zeit die von ihnen bisher erwartete Auszahlung erhalten. Dies ist wahrscheinlich das entscheidende Eigentor der Schröder-Regierung gewesen. Es führt jetzt überdies dazu, dass die Krise der Staatsfinanzen verschärft wird: das Arbeitslosengeld II wird vom Fiskus gezahlt und verschlingt größere Summen als vorher veranschlagt.
Die Reform der gesetzlichen Krankenkassen hatte eine ähnliche Wirkung: Leistungsminderungen und Zuzahlung treffen wiederum in erster Linie die Klientel der SPD. Jetzt sieht es so aus, als seien dennoch Beitragserhöhungen unvermeidlich.
Der Beifall der Unternehmer war von Anfang an zwiespältig. Er verband sich mit dem Zusatz: das seien hoffnungsvolle erste Schritte, denen zweite folgen müssten. Die Agenda hierfür wurde gleich mitgeliefert, zum Beispiel die Kopfpauschale für die Krankenversicherung. Sie entsprach durchaus einer Prämisse, die ja auch die Regierung von Anfang an akzeptiert hatte: die Einzahlungen in die Sozialversicherungen könnten nicht erhöht werden, deshalb seien die Leistungen zu senken.
In dem Maße, in dem Rot-Grün Zugeständnisse machte (meist durch den Bundesrat genötigt), verschärften sich die Forderungen der anderen Seite. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem angeblich halbe Sachen nicht mehr ausreichen und ganze Arbeit gemacht werden soll: durch Schwarz-Gelb.
Das Ergebnis von Düsseldorf und der Coup von Müntefering/Schröder begünstigen Merkel in der Union. Überlegungen, die der eine oder andere Konkurrent angestellt haben mag, waren auf etwa ein Dreivierteljahr hin angelegt. Jetzt wird sich kaum einer mehr rechtzeitig gegen sie in Stellung bringen können. Ein Männerputsch würde die Wahlaussichten der Union mindern. Damit wird aber die klarste Verfechterin eines neoliberalen Kurses ihre Chance bekommen.
In Düsseldorf endet die vorerst letzte rot-grüne Landesregierung. Fällt auch noch die Bundesebene weg, bleiben mehrere Kommunen. In einigen bestehen schon schwarz-grüne Bündnisse.
Gibt es neben dem Bundestrend auch landesspezifische Gründe für das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen?
Die Behauptung, dass diese Region ein Stammland der Sozialdemokratie sei, ist zu relativieren. Von 1947 bis 1966 war die SPD (mit einer Unterbrechung 1956-58) in der Opposition. Den Ministerpräsidenten stellte ganz am Anfang noch die Zentrumspartei, dann die CDU. Die Schrumpfung des traditionellen Arbeitermilieus schwächte seit den sechziger Jahren zunächst die Union, denn es war katholisch. Die jahrzehntelange SPD-Herrschaft stützte sich auf den rechten Gewerkschaftsflügel und auf eine sozialdemokratische Durchdringung des Öffentlichen Dienstes sowie der Kommunen. In letzteren begann dann auch schon der Niedergang bei den Gemeindewahlen 1999. Rüttgers brauchte in seinem Wahlkampf kaum noch Konzessionen an plebejische Traditionen zu machen.
Die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) erhielt 2,2 Prozent. Sie wird nur mit Lafontaine bei der Bundestagswahl eine Chance haben. Treten PDS (sie bekam in NRW 0,9 Prozent) und WASG gegeneinander an, werden sie sich gegenseitig ruinieren. Stellt sich Lafontaine an die Spitze der "Wahlalternative" ohne PDS, kommt letztere wahrscheinlich nicht in den Bundestag (oder allenfalls mit drei Direktmandaten). Für einen Moment könnte man daran denken, dass beide Organisationen eine gemeinsame Liste mit dem Namen "Linkspartei" gründen. Dies hätte 2006 eine größere Chance gehabt als jetzt. Unabhängig davon wäre es wahrscheinlich finanziell kompliziert für die PDS: es müsste juristisch geprüft werden, ob sie rückwirkend ihre Wahlkampfkostenerstattung von 2002 verliert sowie auf Sicht ihre Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mindestens ebenso gravierend ist, dass ein erheblicher Teil der PDS-Wählerschaft im Osten ihr bei einem solchen Schwenk nicht folgen würde. Ist sie gezwungen, unter ihrem eigenen Namen anzutreten, wäre eine Öffnung zur WASG nur dann aussichtsreich, wenn sie ihr große Zugeständnisse macht: programmatisch und bei der Einräumung guter Listenplätze. Ob die Abgrenzungslust einiger Vertreter der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" dann aufgegeben wird, ist nicht sicher. So viel Vernunft, wie jetzt nötig wäre, gab es in der deutschen Linken kaum einmal. Es wäre eine Überraschung, wenn sie diesmal aufgebracht würde.
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