Seit seiner Wahl zum SPD-Vorsitzenden hat Kurt Beck vier Botschaften unters Volk gebracht. Erstens: Die Sozialdemokratie sei die Partei der Leistungsträger. Hier hätte er durchaus auf sich selbst verweisen können: Die Umstände seiner Kindheit und Jugend erlaubten ihm nicht, das Abitur zu machen. Aber er bekam eine Lehrstelle sowie Weiterbildungsmöglichkeiten als Elektrotechniker und konnte seinen Weg über Bundeswehr, Gewerkschaft und SPD machen. Das ist heute schwerer als damals.
Zweitens machte Beck sich öffentlich Sorgen über die Unterschicht. Da fehle es oft an Lern-, Leistungs- und Aufstiegsbereitschaft - nicht die richtige Klientel für die SPD. Um das zu demonstrieren, kam Henrico Frank wie gerufen. Er ließ sich zwar die Haare schneiden, aber nicht als Beispiel dafür herumzeigen, dass jeder oder jede einen Job finden könne. Beck war auch das recht: Die Bild-Zeitung machte zweimal mit Artikeln über "Deutschlands frechsten Arbeitslosen" auf und verschaffte dem SPD-Vorsitzenden die gute Presse, die einem Politiker die liebste sein muss.
Inzwischen hatte Beck schon seine dritte Botschaft vorgebracht: die Leistungsträger sollen mehr Lohn bekommen. Er befand sich verbal sogar in Übereinstimmung mit Andeutungen der Arbeitgeber in der Metallindustrie. Selbst die Kanzlerin zeigte sich nicht abgeneigt. Die große Koalition ist nämlich keine parlamentarische Verlegenheitslösung, sondern ein sozialökonomisches Projekt: Ihre Basis ist ein Klassenbündnis aus dem Kapital einerseits, aus lohn- und gehaltsabhängigen sowie flexibel einsatzfähigen (schein-)selbstständigen "Leistungsträgern" in florierenden Wirtschaftszweigen andererseits.
Eine Ebene darunter ist die Unterschicht. Etwa 100.000 Insassen dieses Segments werden demnächst vielleicht subventionierte Dauerarbeitsplätze erhalten. Für die meisten Betroffenen kann man nichts machen. Gegen Unterschicht ist ja auch nicht viel zu sagen: Hauptsache, sie kostet nicht viel, bleibt unter Kontrolle und das übrige große Ganze funktioniert irgendwie.
So weit, so klar. Allerdings fahren die beiden Volksparteien zur Zeit nicht gut mit diesem neuen Modell Deutschland: Ihre Umfragewerte sind wenig beeindruckend. CDU/ CSU und SPD sind aber nicht nur Agenturen des angestrebten Konsenses, sondern konkurrieren gegeneinander. Weiterhin müssen Wahlen gewonnen werden, und hierfür braucht man das, was in der Werbung ein "Alleinstellungsmerkmal" genannt wird.
Deshalb gibt es Becks vierte Botschaft: Das Reformtempo müsse verlangsamt werden. Der Widerspruch der Kanzlerin profiliert beide.
Becks Mahnung ist keine Selbstkritik: Rente mit 67, Praxisgebühr, Hartz I bis IV, die Senkung des Spitzensteuersatzes und die Anhebung der Mehrwertsteuer: Alle diese Anschläge erst der rot-grünen Regierung, dann der großen Koalition werden von ihm nicht in Frage gestellt, sondern sogar bestätigt. Er fürchtet allerdings, wenn man im gleichen Tempo weitermache, werde die weitverbreitete schlechte Laune über die bisherige Umverteilung von unten nach oben überhaupt nicht mehr verfliegen, und das ist schlecht für die SPD.
Für die Union aber auch. Jürgen Rüttgers hatte das schnell gemerkt und war für die Verlängerung der Laufzeit beim Arbeitslosengeld I eingetreten. Damit wilderte er einerseits in einem Revier, das die SPD gerade verlassen hatte, andererseits artikulierte er ein gemeinsames Anliegen: Wer den Pakt zwischen Kapital und Leistungsträgern schmieden will, darf sich nicht nur Gedanken über das Wohl der Unternehmer machen, sondern muss auch überlegen, wie lange die Unternommenen mithalten können. Höhere Löhne für die Funktionstüchtigen (solange die Konjunktur das hergibt) allein reichen da nicht aus. Hartz IV hat ja auch in diese Schicht hineingeschnitten. Wer einige Jahrzehnte ordentlich rangeklotzt hat, kann das ab 50 oft selbst beim besten Willen nicht mehr so wie bisher: Die Bandscheiben, die Nerven, die größere Lernfähigkeit der Jüngeren setzen Grenzen. Geht die Stelle verloren und droht nach schon einem Jahr ein Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfeniveau - verbunden mit der Verpflichtung zu Ein-Euro-Jobs -, ist das ganze Modell selbst für die umworbenen Leistungsträger nicht mehr plausibel. Schon Bismarck spekulierte darauf, dass die Alterskohorte der noch berufs- und kampffähigen Arbeiter vielleicht weniger stark zur Sozialdemokratie tendieren werde, wenn ihr eine Altersversicherung in Aussicht steht. Die Linkspartei mag sein, wie sie will: Indirekt wirkt sie eben doch.
Die nächste Zumutung, vor deren Durchpeitschen nun gewarnt wird, ist die Gesundheitsreform. Alle wissen, dass ihr jetziger Entwurf scheitern wird, und versuchen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Das gilt für die Ministerpräsidenten der Union (besonders wenn sie weitergehende persönliche Ambitionen haben) ebenso wie für Beck und Teile der SPD. Irgendwann wird das gegenwärtige Patt beendet werden. Vielleicht treten dann die beiden Ausgangsmodelle sich wieder klar gegenüber: Auf der einen Seite die Kopfpauschale von Merkel und FDP - auf der anderen die solidarische Bürgerversicherung, die bislang von der SPD aber nur als Werbe-Gag im Wahlkampf 2005 vorgezeigt und in ihren sieben vorangegangenen Kanzlerjahren nicht in Angriff genommen wurde. Bei einer solchen Ausgangslage ist das Ergebnis absehbar, und der fünfte Kernsatz kommt dann nicht mehr von Kurt Beck, sondern von der unternehmer-finanzierten "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft": Weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts und noch mehr Privatisierung der sozialen Sicherung. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
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