Wem Gott gibt ein Amt, dem nimmt er seinen bisherigen Verstand und stattet ihn mit einem neuen aus: dem Amtsverstand. So entsteht eine Charaktermaske. Eine Sammelbiografie der BRD-Innenminister könnte dies eindrucksvoll belegen.
Gustav Heinemann imponierte durch seine Opposition gegen die Wiederbewaffnung, als reformbereiter Justizminister und als Bundespräsident, der vorzüglich zur Reformperiode Brandt/Scheel passte. 1949/50 war er Innenminister. Dieses Amt hat er im Konflikt mit dem Kanzler niedergelegt. Vorher aber war er federführend bei der Vorbereitung des so genannten "Adenauer-Erlasses". Dieser verfügte Berufsverbote für angebliche Verfassungsfeinde im Kalten Krieg. Es gibt ein selten gezeigtes Foto, das Adenauer und Heinemann bei der Verkündung dieses Erlasses zeigt.
Auch die CDU hatte einmal einen Politiker mit dem Namen Gerhard Schröder. Als Innenminister legte er einen autoritären Entwurf einer künftigen Notstandsverfassung vor. Danach wurde er Außenminister und bemühte er sich um eine vorsichtige Lockerung der Adenauerschen Politik des Kalten Krieges. Eine ähnliche Karriere hatte Genscher: Er war der Berufsverbote-Innenminister. Als Außenminister wurde er danach Sympathieträger. Der feinsinnige Freidemokrat Werner Maihofer fiel durch einen Lauschangriff gegen den Atomwissenschaftler Klaus Traube auf und musste zurücktreten. Das Wirken Otto Schilys (SPD) ist noch in lebhafter Erinnerung. Es gab Ausnahmen, zum Beispiel Gerhart Baum (FDP). Er hatte Glück.
Wolfgang Schäuble aber ist ein Regelfall, nicht besser, aber auch nicht schlimmer als die meisten seiner Vorgänger. Mit einigen von ihnen teilt er eine gewisse sarkastische Ausdrucksweise, vielleicht Resultat des Unmuts darüber, dass er für die Schmuddelarbeit zuständig ist. Man erinnert sich an den Ausspruch des sonst eher gemütlichen CSU-Innenministers Höcherl anlässlich einer Abhör-Affäre 1963: seine Verfassungsschützer könnten nicht ständig mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen. Schäuble rechtfertigt seine Pläne, Privat-Computer notfalls auszuspähen und biometrische Daten zentral zu erfassen sowie bei Bedarf auszuwerten, mit der Erkenntnis, bei der Gefahrenabwehr gebe es keine Unschuldsvermutung. Das ist sogar richtig. Der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" gilt nur im Strafprozess. Wenn wir die Wohnungstür abschließen, sobald wir das Haus verlassen, zeigt dies, dass wir uns keine Unschuldsvermutung gegenüber unseren Mitmenschen leisten wollen.
Das Missgeschick des derzeitigen Innenministers besteht darin: Er hat so gesprochen, wie es diejenigen, die ihn ohnehin bekämpfen wollen, von ihm erwartet haben. Vielleicht passt er ja wirklich besonders deutlich zu seinem Amt. Das heißt nur: Er ist ein guter, also letztlich typischer Innenminister.
Mindestens drei verschiedene Reaktionen auf seine Vorschläge sind vorstellbar. Wer der kapitalistischen Gesellschaft und dem auf sie zugeschnittenen Staat grundsätzlich oppositionell gegenübersteht und seine eigenen gegnerischen Bestrebungen vor dessen Zugriff schützen will, hat gute Gründe, sich vor Ausforschung zu schützen. Es ist nicht bekannt, dass sich heute viele Menschen auf diese Maxime berufen.
Zweitens gibt es radikale Demokraten und individualistische Liberale: Ihrer Meinung nach hat der Staat die Bürgerinnen und Bürger prinzipiell in Ruhe zu lassen. Diese Meinung ist einerseits weit verbreitet, andererseits selten. Weit verbreitet deshalb, weil kaum jemand bereit ist, sein Privatleben ausspähen zu lassen.
Selten ist diese freiheitliche Auffassung dann, wenn man sie nicht nur für sich selbst gelten lassen soll, sondern auch für alle anderen. Umfragen ergeben nämlich eine hohe Zustimmung für Schäubles Pläne. Wahrscheinlich sind größere Teile des Publikums der Ansicht, viele Geheimnisse hätten sie mittlerweile ohnehin nicht mehr, seit sie mit Kreditkarte einkaufen gehen. Big Brother ist keine Drohfigur aus Orwells Roman 1984 mehr, sondern eine beliebte Unterhaltungssendung. Im Heimatblatt liest man auch schon mal, eine junge Nachbarin sei gerade bei Big Brother im Container eingezogen. Zugleich aber will man von einem starken Staat umso mehr Sicherheit, je schwächer man sich selbst fühlt.
Die volksnahe SPD behandelt das Thema denn auch realistischerweise unter dem Gesichtspunkt versuchter Stimmenmaximierung. Es ist gut für sie, wenn sie damit den Koalitionspartner ein bisschen ärgern kann. Aber allzu grundsätzlich will man lieber doch nicht werden, da es schon seit den rot-grünen Zeiten Online-Ausforschungen gab.
Immerhin könnte der Fall Anlass sein, wieder einmal darüber nachzudenken, was das denn ist: ein Staat. Manche weisen ihm die ausschließliche Aufgabe zu, seinen Insassen die Freiheit zu garantieren: durch gute Gesetze und eine korrekte Rechtspflege. Andere wollen mehr: den Wohlfahrtsstaat. Angesichts dieser Lieblichkeiten erscheint als Spielverderber, wer meint, Staat bedeute immer auch Repression, ausgeübt von ungemütlichen Apparaten. Das muss gar nicht im Widerspruch zu seinen freiheitsgarantierenden und sozialstaatlichen Funktionen stehen. Inklusion bedeutet immer auch die Bereitschaft zur Abwehr derer, die nicht dazugehören sollen. Die martialische Parole "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" gilt für viele sogar als liberal. Druck und staatliche Neugier sind übrigens nicht klassenneutral. Hartz IV-Empfänger haben weniger Rechte auf ihre Geheimnisse als Steuerflüchtlinge.
Um die Ecke lauert Carl Schmitt: Ohne Feinde oder gar eine "innerstaatliche Feinderklärung" sei kein Staat zu machen. So weit kann es kommen, wenn man über Schäubles Pläne ein bisschen philosophiert. Insofern ist er mit seinem Vorstoß sogar ein Aufklärer, nicht nur im kriminalistischen Sinn.
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