Das Beißen der Lämmer

Konfuses Votum bei den Europawahlen Ein Stimmungsbild - kein Stimmungsumschwung

Bei der Europa-Wahl haben fast überall die Parteien verloren, die den Regierungschef stellen. Zu den Ausnahmen gehören Luxemburg und Schweden. Nehmen wir die vorangegangenen Parlamentswahlen in Spanien und den Niederlanden wie auch die britischen Kommunalwahlen hinzu, bestätigt sich dieser Trend. Der Einbruch Aznars, Balkenendes und Blairs war mit deren Befürwortung des Irak-Kriegs erklärt worden. Das trägt nicht mehr. In Frankreich haben die Konservativen und in Deutschland die Soziademokraten - beide in Opposition zu Bush - verloren.

Europaweit wurden die Regierungen abgestraft, es fragt sich, ob das eine formale Angelegenheit ist - ein unüberlegtes kollektives Aufmotzen gegen die da oben, egal welche Politik sie betreiben. Dagegen spricht, dass alle Regierungen, die nun so stark verloren haben, zumindest in der Wirtschafts- und Sozialpolitik den gleichen Kurs verfolgen. Nennen wir ihn neoliberal und sagen wir gleich dazu, was damit gemeint ist: Kürzung staatlicher Leistungen, Abbau sozialer Sicherungssysteme und Deregulierung.

Diese Politik hat die Hegemonie in der veröffentlichten Meinung. Sogar bei Umfragen gewinnt sie meist die Mehrheit. Das Wahlergebnis vom 13. Juni markiert auch keinen Stimmungsumschwung, sondern es gehört auf eine andere Ebene. Die Umfragen wollen wissen, was sich die Leute von der Zukunft versprechen. Beklebt man diese Erwartung mit dem Etikett "Reformen" und kombiniert dies mit den Parolen, die die Public-Relations-Agenturen dafür erfunden haben - etwa: schmerzhafte Einschnitte für alle sind unvermeidlich - kommt mit großer Wahrscheinlichkeit Zustimmung heraus. Die Wähler aber haben sich diesmal nicht zur Zukunft geäußert, sondern Nachricht über ihre aktuelle Stimmung und ihre Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre gegeben. Dabei kam ein Minus heraus.

In Deutschland traf dies die Sozialdemokratie gleich zweimal. Erstens stellt sie den Kanzler, und zweitens ist sie eben die Partei, der Verstöße gegen das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit weit weniger nachgesehen werden als allen anderen. Für die Unternehmer mag die gegenwärtige Konstellation optimal sein: Wenn die SPD Sozialabbau betreibt, muss sie auf keine Opposition Rücksicht nehmen. Für die Sozialdemokratie ist dies allerdings ruinös. Man fragt sich, ob in der Einschätzung ihrer Führung die Lage der Nation so ernst ist, dass sich die SPD wieder einmal opfern muss: wie im Ersten Weltkrieg, in der Novemberrevolution und bei der Tolerierung des Reichskanzlers Brüning Anfang der dreißiger Jahre. Damals gab es angeblich Wichtigeres als die Partei und die Interessen ihrer Basis: das Vaterland, die Abwehr einer so genannten roten Gefahr und die Verteidigung des parlamentarischen Systems gegen Feinde von rechts und links. Heute soll das wohl der Standort Deutschland sein. Der Preis erscheint unangemessen. Dies fanden offenbar diejenigen bisherigen SPD-Wähler, die zu Hause blieben.

Die Union ist zwar bei der Europawahl und in Thüringen stärkste Partei geblieben, reichte für Straßburg an die absolute Mehrheit heran und verteidigte sie in Erfurt. Aber sie hat kräftig Prozente verloren - der Protest fraß auch an ihr. Da sie aber zugleich formell die Opposition stellt, kam ihr die schlechte Laune der Wähler doch noch zugute.

Tendiert der Missmut nach links? Überhaupt nicht. Erstens ist ja die Union die Siegerin. Zweitens verloren die beiden großen Volksparteien Stimmen an Partner, die sozialpolitisch eher rechts von ihnen stehen. Dies gilt für die FDP allemal, im wesentlichen aber auch für die Grünen: in den Diskussionen über Abflachung des Sozialstaats und Deregulierung haben sie die SPD immer wieder unter Druck gesetzt.

In die gleiche Richtung deuten zwei Ergebnisse aus den Niederlanden und Österreich. Dort erzielten Anti-Korruptionsparteien Achtungserfolge. Der unmittelbare Anlass - Filz und Diätenschwindel - wirkte mobilisierend. Saubermänner finden ihren Anklang in der Regel eher rechts als links.

Die niedrige Wahlbeteiligung ist nicht nur Ausdruck der Tatsache, dass es in Straßburg vorgeblich um nichts geht, sondern von Perspektivlosigkeit angesichts eines ungenügenden Angebots. Auch in Thüringen haben sich viele enthalten. Wer mit der aktuellen Politik unzufrieden ist, hat häufig nur resigniert.

Kam die miese Stimmung in höherem Maße der rechten Mitte zugute (zum Glück nicht irgendwelchen faschistoiden Populisten, Ausnahme: das unerfreulich gute Abschneiden des Vlaams Blok in Belgien), so gab es immerhin ein paar linke Gegentore.

In den Niederlanden besteht seit ein paar Jahren eine neue Sozialistische Partei. Einige ihrer führenden Köpfe sollen in grauer Vorzeit einmal Maoisten gewesen sein, gehörten aber wohl immer zur eher unverstiegenen Sorte. Bei der nationalen Parlamentswahl haben sie kürzlich ihren Anteil von fünf auf sieben Prozent erhöht.

Dass die PDS in Thüringen zulegen würde, war erwartet worden. Ihr Wiedereinzug ins Europäische Parlament, noch dazu mit einigen Promille Zuwachs, kam völlig überraschend. Die meisten Meinungsforschungsinstitute haben sich blamiert. Die PDS profitierte zweifellos auch von einer niedrigen Wahlbeteiligung, die in zwei Jahren viel höher sein wird und dann gegen sie ausschlagen könnte. Der Vorsitzende Bisky fand den richtigen Satz: abgerechnet wird 2006. Das gilt nicht nur für die PDS.


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