Im Bundestag war im Herbst vor 50 Jahren nicht selten die Formel zu hören, Konrad Adenauer habe sich um das Land verdient gemacht. Ökonomisch stand die Bundesrepublik so da, dass man die fünfziger Jahre im Rückblick das „Goldene Zeitalter“ des Rheinischen Kapitalismus nennt. Aber der langjährige Kanzler ging nicht freiwillig, sondern musste aus dem Amt gedrängt werden. Von einem Sturz wird man nicht sprechen können, wohl aber war der 15. Oktober 1963 Schlusspunkt eines allmählichen Abstiegs.
Dieser hatte bereits 1957 begonnen, im Augenblick von Adenauers größtem Wahlerfolg. Er errang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und der Mandate im Bundestag. Das Ergebnis lieferte Adenauer jedoch stärker als früher den beiden Unionsparteien aus. Ihnen gegenüber war seine Stellung in der Vergangenheit auch dadurch gestärkt worden, dass er sie in Koalitionsverhandlungen vertrat und Begehrlichkeiten seiner Parteifreunde mit den Ansprüchen der Partner abzugleichen hatte. Jetzt traten Prätendenten in CDU und CSU selbstbewusster auf. Sie machten sich Gedanken über die Nachfolge und ihre eigenen Chancen. 1956 schon hatte Adenauer die FDP als Koalitionspartner verloren. Sie verließ die Regierung und spaltete sich dabei: Eine dem Kanzler treue Absplitterung blieb im Kabinett. Adenauer plante ein neues Wahlrecht, das – wäre es verwirklicht worden – den Liberalen das parlamentarische Lebenslicht ausgeblasen hätte. 1957 konnte er dann ohne sie regieren. Das hieß aber auch: Im Dreiparteiensystem, das sich nun für einige Zeit herausbildete, hatte er neben der SPD eine zweite Oppositionspartei gegen sich. Es begann ein Emanzipationsprozess, der die FDP später für einige Zeit aus ihrer bisher selbstverständlichen Zugehörigkeit zum Bürgerblock herausholen sollte.
Verbrüderung mit den USA
Vor allem außenpolitisch begann es ab 1957 schlecht zu laufen. Das atomare Patt hatte sich mit dem sowjetischen Sputnik angekündigt und damit die von Adenauer immer wieder vertretene „Politik der Stärke“ des Westens infrage gestellt. Sie zielte darauf, die UdSSR quasi totzurüsten und dadurch aus Mitteleuropa hinauszudrängen. Dies rückte nun aber in weite Ferne. Der letztlich erfolgreiche Versuch der Bundesregierung, zwar nicht unmittelbar an Atomwaffen heranzukommen, aber an Abschussgeräte und Flugzeuge, von denen aus Kernsprengköpfe unter US-Oberbefehl von deutschen Soldaten eingesetzt werden konnten, rückte die alte Vorwärtsstrategie in die Nähe des Apokalyptischen.
Ein Axiom – nicht nur Adenauers, sondern aller seiner Nachfolger bis 1990 – bestand darin, dass der Konsens zwischen der amerikanischen und westdeutschen Außenpolitik Staatsräson sei. Ausgerechnet diese Maxime begann sich ab November 1960 gegen Adenauer zu richten, als John F. Kennedy zum US-Präsidenten gewählt worden war und in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 eine außenpolitische Bestandsaufnahme ankündigte. Dabei galt der Status quo in Europa zunächst als festgeschrieben, so dass eine rasche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten aus Sicht der neuen Regierung in Washington ausgeschlossen war.
Die USA schritten denn auch am 13. August 1961 nicht ein. Adenauer stand plötzlich als jemand da, der sich gründlich verrechnet hatte. Tatsächlich war er eher das Opfer der allgemeinen Rhetorik der fünfziger Jahre als seiner Regierungspraxis geworden. Er hatte die Westintegration stets als einzigen Weg zur Wiedervereinigung dargestellt. Nicht nur die Vertriebenenverbände, fast die gesamte veröffentlichte Meinung, ebenso die SPD und die 1956 verbotene KPD hatten die Wiedervereinigung (letztere unter anderem Vorzeichen) als Tagesaufgabe ausgegeben. Adenauer widersprach nicht, sah aber keine Möglichkeit zu Sofortlösungen, sondern die Notwendigkeit eines Umwegs: Westbindung, Aufrüstung und NATO. Das schien jetzt in einer Sackgasse zu enden.
Schwierigkeiten bahnten sich auch durch einen außenpolitischen Strategiewechsel der SPD an. Als sich Herbert Wehner am 30. Juni 1960 im Bundestag für die Sozialdemokraten zur NATO bekannte, konnte, wer wollte, das zwar für eine Kapitulation halten, in Wirklichkeit war es eine Kampfansage: Nunmehr betrat die SPD eine politische Plattform, die – von Adenauer geschaffen – bisher von ihr abgelehnt wurde, nun aber als Basis diente, um mit der Union zu konkurrieren. Wehner und Kollegen stellten die Frage, wer denn der bessere Freund der USA sei. Immerhin wurde Willy Brandt im Bundestagswahlkampf 1961 als Double Kennedys vorgestellt.
Die deutsch-französische Freundschaft – 1962 bei eindrucksvollen Staatsbesuchen des französischen Präsidenten und des deutschen Kanzlers besiegelt – galt zwar als große Leistung Adenauers und schien bestens in seine Biografie zu passen (seit der Weimarer Republik stand er in dem Ruf, eine Art Rheinbund-Politiker zu sein, dem die Westbindung wichtiger war als die deutsche Einheit). Jetzt aber hatte die Nähe zu Frankreich eine zusätzliche Funktion: Der Kanzler wollte nicht mehr allein auf die USA und Kennedy bauen, er brauchte zusätzliche Freunde. De Gaulles wortgewaltige Betonung des Selbstbestimmungsrechts europäischer Nationen passte zum Wiedervereinigungsanspruch und schien zu kompensieren, woran es der US-Präsident so sehr fehlen ließ. Bei CDU/CSU bahnte sich eine Differenz zwischen „Atlantikern“ und „deutschen Gaullisten“ an. Aber das konnte auf die Dauer nicht ernst gemeint sein.
Die Spiegel-Affäre
Adenauer war in der Defensive. Rettung versprach Franz Josef Strauß. Der Griff nach der Atomwaffe war vor allem sein Thema. Diese Option gehörte zum Drohpotenzial gegenüber Moskau, das Adenauer ebenfalls für nötig hielt. 1959 zog – von Axel Springer präsentiert – eine Art Hassprediger durch die Säle: Der US-Publizist William S. Schlamm – ein früherer Kommunist, nun aber das Gegenteil – verkündete, im Konflikt mit der Sowjetunion dürfe das letzte Risiko, der Dritte Weltkrieg, nicht gescheut werden. So weit wäre Adenauer nie gegangen. Er hatte kalkuliert, dass durch die Überlegenheit des Westens und das so unvermeidliche Nachgeben der Sowjets diese Gefahr ausgeräumt werden könne. Der Fanatiker Schlamm machte klar, dass sich der Preis erhöht hatte. Die Bundeswehr fuhr 1962 das NATO-Manöver „Fallex 62“ an die Wand. Der Spiegel titelte, die Bundesrepublik sei nur „bedingt abwehrbereit“. Strauß wurde nachgesagt, er habe zeigen wollen, dass eine deutsche Armee ohne Atomwaffen wehrlos sei, diese also brauche. In den Skandal um die Polizeiaktion gegen das Nachrichtenmagazin und die Verhaftung des Herausgebers sowie einiger Redakteure wurde auch Adenauer hineingezogen.
Der 13. August und die Spiegel-Affäre beschleunigten das Ende der politischen Laufbahn Konrad Adenauers. Allerdings hatte seine Partei schon 1959 klargemacht, dass sie ihre Zukunft nicht länger an einen 83-Jährigen binden wollte. Sie bereitete Ludwig Erhards Kanzlerschaft vor. Die Manöver, mit denen Adenauer dies zu verhindern suchte, sind nicht nur als Starrsinn zu erklären, sondern resultieren aus seinem Denken in Kategorien der maximalen Selbstbehauptung im Kampf gegen den Osten. In seinen Augen war Erhard diesem Anspruch nicht gewachsen. Als Adenauer Bundespräsident werden wollte, um den Neuen zu überwachen, und dann wieder zurückzog, geriet er in die Nähe des Lächerlichen.
Kurz nach dem 13. August 1961 verlor der Kanzler die absolute Mehrheit. Die FDP wurde wieder gebraucht und rang ihm das Zugeständnis ab, während der neuen Legislaturperiode abzutreten. Noch konnte er die Nennung eines festen Termins vermeiden. Nach der Spiegel-Krise musste er einwilligen, 1963 aufzuhören. 1990 wurde er rehabilitiert. Die Sowjetunion war überrüstet. Helmut Kohl, Adenauers politischer Enkel, kommentierte: Entscheidend sei, was hinten herauskommt.
Georg Fülberth schrieb im Freitag zuletzt über das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag
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