Im Herbst 1932 fanden zahlreiche Arbeitskämpfe statt. Heute wird in der Regel nur noch an den Ausstand bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) vom 3. bis zum 7. November erinnert. In dessen Streikleitung gab es neben der KPD-nahen Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO), Parteilosen und Sozialdemokraten auch zwei Mitglieder der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO). Dies gilt als Beleg für eine Totalitarismustheorie, derzufolge Feinde der Demokratie von links- und rechtsaußen die Weimarer Republik zugrunde gerichtet haben sollen.
Es ist ratsam, das Ereignis vom November 1932 in seinen Kontext einzubetten. Als Rahmen bietet sich der Zeitraum vom 20. Mai 1928 bis zur Machtübertragung an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 an. Er umfasst die Ja
sst die Jahre von der Schlussphase der sogenannten „Goldenen Zwanziger“ bis zur NS-Diktatur. Nach der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 endete die Periode der „Bürgerblockregierungen“, die es seit 1923 gegeben hatte. An ihre Stelle trat eine große Koalition unter dem Kanzler Hermann Müller (SPD). Kurz darauf brach der „Ruhreisenstreit“ aus. Er war das erste Zeichen dafür, dass eine Wende im Verhältnis von Arbeit und Kapital wie der Republik und ihren Verächtern bevorstand. Bei einem Tarifkonflikt an Rhein und Ruhr hatten die Unternehmer nicht nur die Lohnforderungen der Gewerkschaften, sondern auch sämtliche von Arbeitsminister Rudolf Wissell (SPD) für allgemeinverbindlich erklärten Schiedssprüche abgelehnt. Sie sperrten die Belegschaften aus und erwirkten ein Urteil des Reichsarbeitsgerichts, wonach die bisherigen Regelungen für Schlichtungsverfahren, bei denen der Staat mitwirkte, außer Kraft gesetzt wurden.Dieser Erfolg des Unternehmerlagers leitete eine strategische Wende ein: den Übergang zum forcierten Kampf gegen die Arbeiterbewegung und die parlamentarische Republik mit der Perspektive, Letztere langfristig zu beseitigen. In der zunehmenden Abwendung von der Demokratie traf sich ein Teil des Kapitals mit offen reaktionären und monarchistischen Kräften des ostelbischen Großgrundbesitzes und im Staatsapparat (einschließlich der Reichswehr), die den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg seit 1925 als ihren Ersatzkaiser gefunden hatten. Im Kabinett wurden die Arbeitgeberinteressen von der Deutschen Volkspartei (DVP) vertreten. Sie stützte sich auf die Groß-, vor allem die Schwerindustrie. Der Konflikt zwischen ihr und den Gewerkschaften eskalierte 1930 im Streit um die Finanzierung der 1927 eingeführten Arbeitslosenversicherung. Eine Deckungslücke musste laut Gesetz durch Zuwendungen aus dem Staatshaushalt geschlossen werden. Gewerkschaften und SPD strebten erhöhte Beitragssätze an. Stattdessen verlangte die DVP Leistungskürzungen. Ende März 1930 zerbrach daran die Koalition, Hermann Müller und die sozialdemokratischen Minister traten zurück. Der neue Kanzler, Heinrich Brüning von der katholischen Zentrumspartei, legte ein Wirtschaftsprogramm vor, das staatliche Leistungen senkte und Druck auf die Arbeitseinkommen ausübte. Dies verschärfte die Folgen der Weltwirtschaftskrise, die 1929 ausbrach. Bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 schwoll die Zahl der NSDAP-Mandate so an, dass keine der bisher üblichen Koalitionen auf parlamentarischer Grundlage mehr möglich war. Brüning konnte fortan nur noch mit Notverordnungen des Reichspräsidenten regieren. Die SPD ging zu einer Tolerierungspolitik über. Sie stimmte im Reichstag nicht mehr für die Aufhebung der Notverordnungen, um zu verhindern, dass es irgendwann zu einer Regierungsbildung unter Einschluss der NSDAP käme. Diese Politik sollte sie einem Teil ihrer Wählerschaft entfremden.Eine Abwehrreaktion gegen die wachsende Verelendung in breiten Teilen der Bevölkerung war der Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft. Vorangegangen war im September 1932 eine Notverordnung von Brünings Nachfolger Franz von Papen, die den Unternehmen Lohnsenkungen in Abweichung von geltenden Tarifverträgen erlaubte. Unmittelbar danach hatte er den Reichstag auflösen lassen – es begann der Wahlkampf. Die BVG kündigte eine Senkung der Stundenlöhne von 14 bis 23 Pfennig an. Der Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs, der zum sozialdemokratisch geführten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) gehörte, erreichte, dass die Kürzung nur noch zwei Pfennig betrug. Die kommunistische RGO lehnte den Kompromiss ab. Sie folgte der Auffassung der KPD, dass schon das Regime Brünings und seine Nachfolger objektiv faschistisch seien. Die Tolerierungspolitik der SPD wurde von ihr scharf bekämpft – die Partei als „sozialfaschistisch“ beschimpft. Mit einer „Einheitsfront von unten“ sollten ihre Mitglieder und Wähler von der Führung getrennt werden. Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition baute selbstständige Strukturen innerhalb und außerhalb der ADGB-Gewerkschaften auf und initiierte Streiks. Ein von ihr stark beeinflusster„Kampfausschuss“ bei der BVG erzwang eine Urabstimmung am 2. November 1932, an dem 84 Prozent der Beschäftigten teilnahmen. Für einen Streik war eine Dreiviertelmehrheit notwendig.Die wurde unter den Abstimmenden, nicht aber gemessen an der Gesamtbelegschaft, erzielt. Nach Auffassung des ADGB war damit das Quorum nicht erfüllt. Die RGO sah das anders und hielt die BVG-Mitarbeiter für maßgebend, die an der Urabstimmung teilgenommen hatten. Daraufhin wurde eine Streikleitung gewählt. Dass ihr auch NSDAP-Mitglieder angehörten, war für die RGO und die KPD offenbar unproblematisch. In der damals ultralinken Phase ihrer Politik mochte dies als eine sehr weitgehende Version der „Einheitsfront von unten“ durchgehen: Nicht nur der Führung der SPD, sondern auch der NSDAP sollte ihre – ohnehin nicht starke – proletarische Basis entzogen werden.Der Streik, der am 3. November begann, wurde von der zu zwei Dritteln aus Unorganisierten bestehenden Belegschaft geschlossen getragen und brachte in Berlin den U-Bahn- und Straßenbahnverkehr zum Erliegen. Der Schiedsspruch, der eine Lohnsenkung um zwei Pfennig vorsah, wurde vom Schlichter für verbindlich erklärt. Der Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs forderte die Belegschaft auf, zur Arbeit zurückzukehren, die Geschäftsführung drohte mit Massenentlassungen. Vier Streikende wurden bei Zusammenstößen und Demonstrationen von der Polizei erschossen. Am 7. November war der Arbeitskampf vorbei.Zuweilen wird heute ein etwaiges Zusammengehen von Linken und Rechten als „Querfront“ bezeichnet. Dieser Begriff stammt aus der Schlussphase der Weimarer Republik. Er bezeichnet Überlegungen konservativer Ideologen und Politiker, darunter des Generals und Reichswehrministers Kurt von Schleicher, ab Dezember 1932 letzter Kanzler vor Hitler. Nach diesen Plänen sollte eine Achse gebildet werden, die sich von kooperationsbereiten Teilen der Gewerkschaften bis zu einer angeblichen linken Opposition innerhalb der NSDAP gegen Hitler erstreckte. Diese Strategie richtete sich gleichermaßen gegen diesen wie gegen die KPD, war also das gerade Gegenteil eines von der Totalitarismustheorie behaupteten „Hufeisens der Extreme“, die einander nahekommen.Betrachten wir stattdessen abschließend die Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse am Ende der Weimarer Periode. Im „Ruhreisenstreit“ von 1928 ist eine Lohnoffensive der Arbeiterbewegung niedergerungen und der Kampf gegen die Gewerkschaften, die SPD und die Republik begonnen worden. Der BVG-Streik war die Defensive einer verzweifelten Arbeiterschaft – ein letztes Aufbäumen gegen die bald folgende finale Niederlage. Nicht an einer Zangenbewegung von KPD und NSDAP ist die Weimarer Republik gescheitert, sondern an der Kollaboration der sogenannten Mitte mit dem Faschismus.