Die Angst vor dem Absturz

Soziale Unruhen Das Reden über die Folgen der Krise zeigt: Die Politik fürchtet sich vor dem Ende der Geduld

Marx leitete seine Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte mit der Bemerkung ein, alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen ereigneten sich zweimal, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. So ließe sich auch ein postmodernes Arrangement beschreiben: Historisches wird mit Aktuellem kombiniert, es passt nicht recht, aber irgendwie ist ja alles erlaubt.

Am Beispiel der jetzigen Wirtschaftskrise: Sie sei, heißt es, eine Art Wiederholung der Rezession der Jahre 1929 bis 1933. Doch gerade im Vergleich dazu erscheint sie bislang recht harmlos: Sehr viele reiche Leute haben an der Börse eine Menge Geld verloren. Daraufhin veranstalteten die ihnen verbundenen Medien ihre Spielart der soziale Unruhe: Heftige Beschimpfung von Spekulanten und Managern. Das ist aber nur die Fortsetzung eines Tumults, der vor einem Vierteljahrhundert in den Vereinigten Staaten begonnen hat: als „Shareholder Revolution“. Die Aktionäre waren unzufrieden mit ihren leitenden Angestellten, den Managern, geworden. Bis dahin hatten diese die Unternehmen dynamisch geführt und schöne Gewinne eingefahren. Aber jetzt wollten die Anteilseigner mehr und auch etwas ganz Anderes: nicht nur jährliche Dividenden, sondern Kurssprünge für Aktien, die sie dann hurtig verkaufen konnten. Hierzu brauchte man einen neuen ­Managertyp, der nichts mehr mit einem Indus­triekapitän, aber sehr viel mit einem Broker gemeinsam hatte. Wenn es dabei auch einmal zu Luftbuchungen kam – wa­rum nicht? Kredite bekam man von den Banken, die Zinsen waren niedrig. Nun, da die Blase geplatzt ist, kritisieren die Auftraggeber ihr Personal. So viel zum Klassenkampf innerhalb der Bourgeoisie. Er hat ziemlich viel Lärm verursacht – soziale Unruhe eben.

Aber die Realwirtschaft! Sie sei, so liest und hört man, durch die Kreditkrise in Mitleidenschaft gezogen. Das koste Arbeitsplätze, und deshalb sei auch auf den billigen Plätzen soziale Unruhe zu befürchten.

Jetzt sind jedoch die Finanzmassen, die eine Blase erst entstehen und dann platzen ließen, nicht von irgendwelchen Spekulanten erfunden, sondern just von der Realwirtschaft ausgeschwitzt worden. Jahrzehntelang wurden Löhne, Staatseinnahmen und -ausgaben gedämpft. Geld, das dort nicht mehr untergebracht wurde, verschwand in der Spekulation. Wer in den USA nicht genug verdiente, durfte sich verschulden und konnte sich vielleicht ein deutsches Auto kaufen. Die Kredite wurden an der Börse gehandelt. Auch der Export aus der Bundesrepublik – bei gedämpftem Binnenmarkt – beruhte also zu großen Teilen auf Spekulation.

Wenn nunmehr Opel, Chrysler und Daimler Schwierigkeiten haben, sind nicht gierige Banker schuld, sondern die weltweiten Überkapazitäten. Die Kreditklemme macht allerdings einige Refinanzierungstricks, mit denen man sich in der Vergangenheit behalf, nicht mehr möglich. Die Bußpredigten gegen die Zocker lenken von einer hässlichen Tatsache ab: Es gibt nicht zu wenig Kapital, sondern zu viel, wenngleich am falschen Ort: in der Auto- und in der Finanzindustrie. Drei Jahrzehnte lang haben die kleinen Leute eine Wirtschaftspolitik, die ihnen schadete, ohne großes Murren ausgehalten. Man muss ihre Geduld bewundern. Jetzt aber werden „soziale Unruhen“ des gemeinen Volkes herbeigeredet. Von wem?

Eine Bewerberin um das Amt der Bundespräsidentin sieht eine Zeit der Wirren heraufkommen. Sie meint, für eine neue Politik zu stehen, die das vermeiden könne. Die Hartz-Gesetze hat sie befürwortet.

Der Vorsitzende des DGB poltert gegen Börsianer und Banker und prophezeit ebenfalls soziale Unruhen. Diese wünscht er keineswegs, sondern er bringt – wenngleich nur indirekt – seine Organisation als die Kraft in Erinnerung, die derlei in der Vergangenheit habe verhüten helfen. Dann müssten aber bitte die alten Geschäftsbedingungen wiederhergestellt werden. Der Bundesgeschäftsführer der Linken denkt im Interview gern an andere soziale Unruhen zurück: die Montagsdemonstrationen von 2004, die seiner Partei schließlich 2005 einen schönen Wahlerfolg gebracht hätten. So was könnte ihm auch jetzt gefallen.

Schließlich der Berliner Innensenator: Der Rabatz vom 1. Mai sei keine soziale Unruhe gewesen, sondern eher mit einem Sexualdelikt zu vergleichen, sagte er am Tag danach. Wer friedlich um seinen Job kämpft, ist demnach kein Wüstling. Andererseits: Die Assoziation von Gewalt und sozialer Unruhe ist gerade durch diese geschmacklose Abwiegelung erst einmal hergestellt. Niemand wird künftig ein Polizeigehirn daran hindern können, von irgendeiner Form tatsächlicher sozialer Unruhe zu behaupten, sie sei doch nicht die richtige, sondern eine Art von Vergewaltigung.

Dieses Muster ist alt. Falls die da unten wirklich einmal ungemütlich würden, wäre das denen da oben und in der Mitte gewiss nicht recht. Mit den Sansculotten von 1793 und den nicht immer gut frisierten Kommunarden von 1871 möchte kein Citoyen von 2009 einen Latte Macchiato trinken.

Wer Angst um seinen Arbeitsplatz hat, ist zwar beunruhigt, hält aber zunächst einmal still. Was danach kommt, entscheidet hoffentlich nicht die Rhetorik des politischen Personals. Wer für dumm verkauft werden soll, muss nicht unbedingt dumm sein.

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