Vielleicht geht es der CDU/CSU wie der Schwimmerin Franziska van Almsick. Zwischen den Olympischen Spielen erreichte diese ihre Bestform, aber wenn sie im wichtigsten Wettkampf ihres Lebens Gold erringen wollte, klappte es nicht. Das ist natürlich Feuilleton, ebenso wie die oft zu hörende Vermutung, Angela Merkel könne nicht Kanzlerin werden, da die Männerriege der Union sich das nicht gefallen lasse.
Wer das mittlerweile gleichzeitige Formtief von CDU und SPD ernsthaft erklären will, sollte von der Hypothese ausgehen, dass es in Deutschland keine Volksparteien mehr gibt, dass aber diejenige von ihnen doch etwas größere Chancen haben wird, die dies am geschicktesten bemäntelt.
CDU/CSU, FDP, Grüne und SPD kürzen gemeinsam Steuern, staatliche Dienstleistungen, Lohnnebenkosten, Renten, Arbeitslosengeld sowie die Aufwendungen der gesetzlichen Kassen für die Kranken. Der Kündigungsschutz ist durch eine Gesetzesnovelle der rot-grünen Koalition und mit Billigung der Opposition durchlöchert. Werden Umfragen geschickt genug angelegt, ergeben sie, dass eine Mehrheit des Volkes diese Reformen unterstützt. Die Wahlergebnisse aber sehen anders aus: von den etablierten Parteien erzielen nur Bündnis ´90/Die Grünen und die FDP Gewinne. Sie vertreten jeweils unterschiedliche Varianten derjenigen Mittelständler und angeblichen Leistungsträger, denen eine Stutzung des Sozialstaats nicht weh tut.
CDU/CSU und SPD wurden nach 1945 aus folgenden Gründen zu Volksparteien: Die Sozialdemokratie öffnete sich zwar zum Bürgertum hin, achtete aber darauf, dass sie nicht bei den Lohnabhängigen an Einfluss verlor. Auf der anderen Seite setzte die Union eine Tradition fort, die vor 1933 schon die katholische Zentrumspartei begründet hatte: sie verstand sich als "interklassistische Partei", die eben nicht nur einen Unternehmer-, sondern eben auch einen Kleine-Leute-Flügel hatte.
Nunmehr brechen SPD und CDU/CSU mit diesem Konzept. Die Volksparteien haben das Volk entlassen. Wer von ihren Reformen benachteiligt wird, weiß nicht mehr wohin mit seiner Stimme, schwankt zwischen den Lagern, bleibt am Wahltag zu Hause, hält sich im Osten an die PDS, rennt aber auch schon mal zu den Nazis.
Die SPD, die als erste in solcher Weise abgestraft wurde, hat sich von ihren spin doctors ein Rezept verschreiben lassen. Ihre Losung heißt jetzt: Weitermachen wie bisher, aber so tun als ob. Der Kanzler erklärt unverändert, Hartz IV sei alternativlos, doch fürs Warmherzige hat er jetzt den Parteivorsitzenden Müntefering. Dieser sagt zwar dasselbe wie Schröder, gibt dieser Haltung aber die Weihe der Sekundärtugend: ein anständiger Parteisoldat steht zu seinem Verein, basta. Diejenigen, denen das nicht reicht, bekommen - serviert von Andrea Nahles - Placebos: ein Gesetz für eine Ausbildungsumlage, aus dem dann doch nichts wird; Vorschläge für eine Bürgerversicherung, aber erst nach 2006; Überlegungen zum Mindestlohn, bei denen man noch überlegen muss, wie man davon wieder herunterkommt. Die Maxime dieses Handelns steht auf dem Grabstein von Willy Brandt: "Man hat sich bemüht".
Auf solcherlei Netz und doppelten Boden muss Angela Merkel verzichten. Sie ist offenbar eine grundehrliche Natur. Gewissenhaft wiederholt sie eins zu eins, was Michael Rogowski, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), vorgibt. Was bei der SPD gut kalkulierte Doppelzüngigkeit, ist in der Union unproduktiver Streit zwischen CDU und CSU. Stoiber kann nicht Merkels Müntefering sein, denn er führt eine andere Partei, hat einen eigenen Machtanspruch, und vor allem weiß er: eine Union, die der FDP zum Verwechseln ähnlich ist, kann 2006 nicht gewinnen.
Diese Sorgen aber haben diejenigen ohnehin nicht, die nach wie vor zu den Paten von CDU und CSU gehören: die Herren von BDI und BDA. Es gibt eine Sache, die höher steht als jede Partei: das ist das Kapital. Rogowski hat ja schon vor längerer Zeit verlauten lassen, dass Schröder seinen Wünschen sehr nahe kommt. Wenn der Kanzler mit Widerspruch in seiner Partei manövrieren muss, wird ihm das gern nachgesehen. Wären SPD und Grüne in der Opposition, hätte es der Wirtschaftsliberalismus weit schwerer, denn dann würden sie gegen ihn opponieren. Das kennt man noch aus Kohls Zeiten. Also mag die CDU - so denkt man wohl, ohne es zu sagen - ruhig dort bleiben, wo sie ist. Dann soll sie aber bitte in der Opposition auch neoliberalen Klartext reden und damit die Regierung vor sich hertreiben. Das Gefummel, das die SPD nicht vermeiden kann, wäre hier nur schädlich. Bundespolitisch würde ein neoliberaler Durchmarsch à la Merkel für Stoiber das Aus bedeuten. Immerhin muss er Wahlen gewinnen, in Bayern. Und dort ist es ihm ja auch erlaubt.
In den 17 langen Jahren zwischen 1949 und 1966, in denen die SPD eine Bundestagswahl nach der anderen verlor, ließ sie sich von ihrem Schöngeist Carlo Schmid trösten: die Opposition sei doch auch wichtig. Sie sei "der andere Beweger der Politik". Angela Merkel hat das begriffen.
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