Die Kanzlerin will – mit unsicheren Erfolgsaussichten – bis Monatsende eine europäische Einigung, ersatzweise bilaterale Abmachungen über die Aufnahme oder Abweisung von Geflüchteten. Grund der Eile: Sie ist in innenpolitischer Bredouille. Die CSU setzt sie unter Druck, weil sie ihrerseits von der AfD bedrängt wird und fürchtet, im Oktober eine Landtagswahl zu verlieren.
Diese Verlagerung eines nationalen Problems auf die europäische Ebene hat Tradition. Ein Modellfall war die „Politik des leeren Stuhls“, die Charles de Gaulle seit der zweiten Jahreshälfte 1965 betrieb. Der Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) war sechs Monate blockiert, weil Frankreich nicht an seinen Sitzungen teilnahm. De Gaulle sperrte sich gegen eine Entscheidung über den Agrarfonds und das Abgehen von der bisherigen Regel, dass Beschlüsse einstimmig zu fassen seien. Hier ging es auch um die Belange der französischen Landwirtschaft. Im „Luxemburger Kompromiss“ vom Januar 1966 wurde dann geregelt, dass ein Land, das „sehr wichtige Interessen“ geltend mache, nicht überstimmt werden dürfe. Es müsse so lange verhandelt werden, bis Konsens erreicht sei. Die Belange eines einzelnen Staates wirkten sich also auf der Ebene der Gemeinschaft aus. Schon vorher, zu Beginn der westeuropäischen Integration, war dieses Muster wirksam. „Europa“ funktionierte nur dort, wo es mit den Interessen nationaler Eliten vereinbar blieb und auch die Volksmassen in den einzelnen Ländern etwas davon hatten.
Das feindliche Fremde
Konrad Adenauer gilt bis heute aufgrund seines Westkurses als „großer Europäer“. Nach innen verteidigte er ihn jedoch auch als den einzigen Weg, um deutsche Gleichberechtigung und auf lange Sicht sogar die Wiedervereinigung zu erreichen. Mit umgekehrtem Vorzeichen konnte sein französischer Partner, der Außenminister Robert Schuman, seinen Landsleuten darlegen, dass, was gut für Europa ist, auch gut für Frankreich sei, nämlich den ehemaligen Feind einzubinden und damit zu kontrollieren. Als 1957 die EWG beschlossen wurde, ging man davon aus, dass sie auch zum Besten jedes Einzelmitglieds sei. Dies geschah in der Rekonstruktionsperiode des europäischen Nachkriegskapitalismus: langfristiger Aufschwung, nationalstaatlich organisierte Wohlfahrtsregimes, die auch die Unterschichten besserstellten, Dämpfung der innen- und außenpolitischen Konkurrenz in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wo sich ja zunächst nur sechs Länder zusammenfanden. Die ökonomischen Unterschiede zwischen der Bundesrepublik, Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden waren nicht sehr groß. In Italien holte zumindest der Norden auf, das Land profitierte von der Einbindung in die EWG: Auch hier stimmten nationale und europäische Interessen überein.
Das änderte sich spätestens in den 1990er Jahren. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften (die unter anderem aus der alten EWG hervorgegangen waren) und dann der EU fasste Länder mit sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zusammen. Hinzu kam eine Änderung des Wirtschaftsstils: weg von der wohlfahrtsstaatlichen Politik hin zu forcierter Konkurrenz und wachsender Ungleichheit. Diese wurde nicht als Kollateralschaden, sondern als Voraussetzung von Effizienz dargestellt. Zentrifugalkräfte nahmen zu: innerhalb der einzelnen Länder und in ihren Beziehungen zueinander. Ein weiteres Ergebnis des verschärften innereuropäischen Wettbewerbs ist die ökonomische Dominanz Deutschlands mit seinen Exportüberschüssen.
Dass gleichzeitig die institutionelle Integration vorangetrieben wurde – etwa durch die Einführung einer gemeinsamen Währung für Länder unterschiedlicher ökonomischer Stärke –, glättete diese Widersprüche nicht, sondern verschärfte sie. 2015 traten sie offen zutage: Griechenland ging unter seiner Schuldenlast in die Knie. Die Art und Weise seiner – angeblichen oder tatsächlichen – Sanierung forcierte national betonte Empörung nicht nur dort, sondern auch in der Bundesrepublik, wo chauvinistische Ressentiments schließlich eine faschistoide Partei parlamentsfähig machten. Auch in den anderen europäischen Ungleichheitsgesellschaften gab es diese Entwicklung: Fehlverarbeitung innerer Konflikte durch Aggression gegen das angeblich feindliche Fremde.
Symbolische Sanktionen
Im gleichen Jahr 2015 erreichte der Zustrom von Flüchtenden nach Europa einen Höhepunkt. Er traf auf Gesellschaften, die für seine Bewältigung höchst ungleich ausgestattet sind. Die EU geriet unter Stress und hat ihn bis heute nicht überstanden, er nimmt sogar noch zu.
In dieser Situation erweisen sich die viel beschworenen, seit der Aufklärung entwickelten menschenrechtsorientierten europäischen Werte, die gegenwärtig vor allem gegenüber dem Islam hochgehalten werden, als dünner Firnis. Als 2000 in Österreich die konservative ÖVP mit der ausländerfeindlichen FPÖ koalierte, wurde diese Regierung mit ein paar symbolischen „Sanktionen“ belegt, die bald wieder aufgegeben worden sind. Gegen die aktuelle Neuauflage dieses Bündnisses ist selbst eine solche scheinbare Abwehr nicht mehr vorstellbar. Der Sonderbund der osteuropäischen Visegrád-Staaten mit ihren nationalistischen Regierungen ist ein Machtfaktor innerhalb der EU geworden.
Diese kann damit leben, denn ihr Zweck wird hierdurch nicht angetastet: die Verfolgung national verfasster und selbstverständlich immer kapitalkompatibler Interessen auch auf europäischer Ebene. Tolerierung des Auseinanderdriftens ist sogar eine Lebensversicherung für die EU. Als Gemeinsamkeiten werden bleiben: der europäische Markt und Strukturfonds, um ein Minimum an Kohäsion zu gewährleisten, wahrscheinlich auch der Euro. Dies aufrechtzuerhalten, wird unverändert einen großen institutionellen Apparat erfordern. Über diesen Status quo hinaus gibt es auch Perspektiven: riesige deutsch-französische Rüstungsprojekte (heimische Jobs!), einerseits gegen Russland gerichtet, andererseits mit einem Anspruch auf globale Geltung, der – wenn gekonnt inszeniert – nationale und soziale Gegensätze verkleinern könnte.
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