Die zweite Große Koalition regiert seit zwölf Monaten, und laut Umfragen ist sie nicht sehr beliebt. Vergleicht man ihre aktuelle Reputation mit dem Start ihrer Vorgängerin, erscheint das nachgerade ein wenig ungerecht. Schröder und Fischer waren noch kein Jahr im Amt, da hatten sie schon einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und den Bruch eines Wahlversprechens (keine Rentenkürzung!) hinter sich. Zunächst kostete das Stimmen. Anfang 1999 ging Hessen an die CDU verloren, die Grünen büßten ein Drittel ihrer bisherigen Wählerinnen und Wähler ein. Aber nach einem Jahr war die Koalition wieder obenauf, unter anderem durch den christdemokratischen Schmiergeldskandal.
Es mag Leute geben, die sich auch von Angela Merkel ent- oder sogar getäuscht sehen. Hier ist vor allem an ihre Bundesgenossen von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" zu denken. Die CDU-Vorsitzende hatte ihnen versprochen, den Finanzdienstleistern durch ein Prämienmodell für die Krankenversicherung neue Kundschaft zuzutreiben und den Arbeitsmarkt weiter zu deregulieren. Hildegard Müller, die zu Angela Merkels engstem Kreis gehört, ist Vertrauensperson der Dresdner Bank. Aber das Wahlergebnis reichte nicht für ein Durchregieren mit der FDP.
Falls die heutige Kanzlerin eine politische Vergangenheit haben sollte, die vor dem Herbst 1989 liegt, dann hat sie von dort vielleicht die Auffassung mitgebracht, dass man gegebene Verhältnisse nicht ändern, aber das nach Lage der Dinge Beste aus ihnen machen kann. Deshalb moderiert sie jetzt ihr Kabinett ähnlich kameradschaftlich und gottergeben wie wahrscheinlich früher ihre FDJ-Gruppe.
Ihre Förderer im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) scheinen dies zu verstehen. Zwar tadeln sie, aber nicht sehr heftig. Das kann zwei Gründe haben: Erstens gehen die Geschäfte zur Zeit recht gut. Wer da eine Rosskur einfordert, braucht ein bisschen Schwarzmalerei, und das gibt die Lage nicht so recht her. Zweitens müssen Merkels potenzielle Kritiker einräumen, dass ein Großteil der von ihnen gewünschten Arbeit ja schon erledigt ist: teilweise von Rot-Grün, teils durch Schwarz-Rot. Die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre war Teamwork: von Schröder und Clement war sie vorbereitet worden, und als sie von Schwarz-Rot dann zum Gesetz gemacht wurde, wunderte sich niemand mehr. Hartz IV ist eine sozialdemokratische Erfindung.
Auch die Gesundheitsreform wird nicht scheitern, jedenfalls nicht aus der Sicht des BDI und der Finanzdienstleister, so sehr sie auch schimpfen. Wird der jetzige Entwurf letzten Endes doch nicht durchgesetzt, umso besser: dann wird das Tor zu marktradikalen Lösungen eben noch weiter aufgestoßen. Die schiefe Ebene, auf der sich die Regierung abwärts bewegt, ist in der Wirtschafts- und Sozialpolitik also schon von Rot-Grün angelegt worden.
In der Außenpolitik ist das nicht viel anders. Die traumatisierten Bundeswehrsoldaten, die jetzt über ihre Erlebnisse in Afghanistan berichten, sind von Schröder dorthin geschickt worden. Bei Merkel und Steinmeier fehlt allerdings der Eklat einer Konfrontation mit George Bush, wie ihn ihre Vorgänger anlässlich des Irak-Krieges zelebrierten. Dabei mangelt es der jetzigen Regierung noch nicht einmal an Gelegenheit: Leicht lässt sich vorstellen, mit welchen Kraftsprüchen Schröder in der Iran-Frage einen Gegensatz hätte markieren können, der aber in Wirklichkeit nur aus Nuancen bestanden hätte. Und umgekehrt wäre auch die jetzige schwarz-rote Koalition, hätte es sie 2003 schon gegeben, im Irak wahrscheinlich nicht mitmarschiert.
Muss die Bundeswehr irgendwann doch in den gefährlicheren Süden Afghanistans, kann die Kanzlerin darauf verweisen, dass sie immerhin lange gezögert habe. Schwarz-Rot lässt Schiffe vor der Küste des Libanon hin- und herfahren. In diesem Zusammenhang wurde von einem "Tabubruch" geschrieben: indirekte Parteinahme für eine der beiden Konfliktparteien. Vielleicht ist die aber nur simuliert, nämlich dann, wenn es gar keine Waffentransporte über See gibt, die kontrolliert und verhindert werden könnten. Wichtiger als der akute Auftrag ist die Tatsache, dass eine internationale Militärpräsenz Deutschlands erweitert wird, für die ebenfalls schon von Rot-Grün die Voraussetzungen geschaffen wurden. Also: der so genannte Tabubruch ist auch hier älteren Datums.
Da kein Unterschied in der Substanz besteht, freut man sich ein bisschen über stilistische Feinheiten. Die Kanzlerin dröhnt nicht, sondern gibt sich den Anschein, als erläutere sie dem Publikum Sachzwänge, zu denen es halt keine Alternative gebe. Das stimmt zwar nicht und ist letztlich doch nur die Wiedergabe dessen, was die Paten einst auch schon ihrem Vorgänger aufgeschrieben haben. Aber der leisere Ton schont immerhin die Nerven: Ruck auf Filzlatschen.
Kurz vor Weihnachten 1999 posierte Gerhard Schröder als Retter von Arbeitsplätzen bei der Philipp Holzmann AG. Sie dürften inzwischen allesamt verloren sein. Angela Merkel hätte so etwas nicht getan. Erstens widerspricht es ihrem Credo, dass der Staat den Markt nicht ersetzen darf. Zweitens weiß sie, dass große und letztlich leere Gesten ihr schlecht zu Gesicht stehen.
Schröder hatte gewiss die Fußballweltmeisterschaft schon lange in seinen Wahlkampfplan für 2006 eingestellt. Ein Jahr vorher kam ihm die Realität dazwischen. Angela Merkel unterzog sich wahrscheinlich anlässlich der bevorstehenden WM einem Jubel-Coaching, fand dann aber eine angemessenere Aufgabe: als Assistentin bei der Verteilung der Trostpreise. Wenn man sich die Weltgeschichte so ansieht (also eher ästhetisch), dann gibt es vielleicht doch einen Fortschritt.
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