Dreimal in seiner politischen Laufbahn schien Horst Seehofer am Ende zu sein. 2002 erkrankte er so schwer, dass sein Ausscheiden aus der Politik als sicher galt. Als er sich wieder zu Wort melden konnte, geschah dies leise: Vieles sei nicht mehr so wichtig. Kurz darauf stand er gegen Hartz IV und Eigenzahlungen für Zahnersatz. Er wurde als eine Art Herz-Jesu-Sozialist wie Norbert Blüm porträtiert, ziemlich altmodisch und auf verlorenem Posten. Für einige Zeit verschwand er aus der Öffentlichkeit und ließ den Eindruck zu, er habe alles hinter sich gelassen und meditiere.
2007 bewarb er sich gegen Erwin Huber um das Amt des CSU-Vorsitzenden und unterlag. Kurz vorher hatte die Bild-Zeitung die bevorstehende Geburt eines unehelichen Kindes hinausposaunt. Die Informationen – so wird bis heute fest angenommen – kamen aus parteiinternen Quellen. Seehofers Konkurrenten fuhren bei der Landtagswahl 2008 eine böse Niederlage ein, und danach lief alles auf ihn zu. Er wurde Ministerpräsident und CSU-Chef. In einem Interview gab er sich erstaunt: Er könne es noch gar nicht richtig fassen, dass die schönsten für ihn überhaupt denkbaren Ämter ausgerechnet ihm zugefallen seien. Damit meinte er nicht die innerparteilichen Hindernisse, in deren Überwindung sowie in der Fallenstellerei für andere er ja durchaus die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten hatte, sondern eher seine Herkunft.
Der Vater war Lastwagenfahrer und Bauarbeiter. Die Eltern hatten vier Kinder, an Aufstieg übers Gymnasium wurde gar nicht erst gedacht. Bildung war, wenn man es trotzdem schaffte.
Horst Seehofer machte nach dem Realschulabschluss eine kommunale Verwaltungslehre, absolvierte mehrere Fortbildungen, stieg vom mittleren in den gehobenen Dienst auf und war schließlich Diplom-Verwaltungswirt. Dieser Teil seiner Karriere könnte die Aufmerksamkeit von Politologen auf eine versteckte Elite lenken: Junge Männer (kaum Frauen), einige von ihnen aus kleinen Verhältnissen, ohne Abitur, durchlaufen eine Ausbildung bei einer Sparkasse, in einer Gemeinde oder beim Finanzamt und erwerben sich dort solide Fachkenntnisse. Gehen sie in die Politik, ist ihnen in den Details kaum jemand gewachsen. Recht viele Bürgermeister dürften aus dieser Schicht kommen.
Seehofer wurde auf Bundesebene der Sozialpolitiker der CSU. Er war bayerischer Landesvorsitzender des Sozialverbandes VdK, auch wählte ihn die Christlich-Soziale Arbeitnehmerschaft an ihre Spitze. Aber als zuständiger Fachminister war er verantwortlich für das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993, das die finanzielle Unterversorgung öffentlicher Krankenhäuser mit verursachte – eine Folge ist die bis heute anhaltende Privatisierungswelle, da Länder, Kreise und Kommunen sich ihre Kliniken oft nicht mehr leisten können.
Seit Seehofer Ministerpräsident von Bayern wurde, galt er als unberechenbar. Er war für die weitgehend ungehinderte Nutzung der Kernkraft, aber nach Fukushima schwenkte er ebenso um wie die Kanzlerin. Nachdem er die Vorratsdatenspeicherung befürwortet hatte, äußerte er plötzlich Bedenken. Er schaffte es, dass die Abschaffung der von der CSU mit beschlossenen Studiengebühren wie seine eigene Leistung aussah, denn er musste sie ja gegen die FDP durchsetzen. Diese scheinbare Launenhaftigkeit hat einen Fixpunkt: die Landtagswahl am 15. September. Die Scharte von 2008 soll ausgewetzt werden, am besten mit neuer absoluter Mehrheit.
Zumindest in den Umfragen hat er die FDP schon auf vier Prozent gedrückt (seine plötzliche Neigung zum Datenschutz dürfte eines der Mittel zu diesem Zweck gewesen sein). Bleiben noch die Freien Wähler als Rivalen. Ihnen sucht er mit einem Populismus beizukommen, der ihm nicht schwerfällt.
Horst Seehofer wäre mühelos imstande, eine soziale Basis zu nennen, der er sich loyal verpflichtet fühlt: das bayerische Volk in all seinen Stämmen – so kann er tatsächlich reden – mit dem CSU-Chef und Ministerpräsidenten als Anführer. Selbstverständlich gehört die große Industrie zu dieser Gemeinschaft. Seehofers Forderung nach Steuersenkung passt hierher und schadet wieder einmal der Konkurrenz von der FDP. Alle bayerischen Regierungschefs waren fleißige Industrieförderer. Auch Seehofer weiß, dass sein Land nicht Folklore ist, sondern Standort.
Daneben hat er sich den Rest-Anschein eines großen Lümmels erhalten, von dem man sich vorstellen kann, er habe sich oft auf dem Schulhof geprügelt. „A Hund is er scho“, dieses spezifisch bayerische Urteil ist ein Ausdruck von Wertschätzung aus der Stammesgemeinschaft, in der man zwar weiß, wo der Bartel den Most holt (etwa bei Siemens und BMW und der im Land ansässigen Rüstungsindustrie), in der aber auch für die mittleren und kleinen Leute etwas abfallen soll.
Allerdings muss solche Gemeinschaft zusammengehalten werden durch Ausgrenzung von Habenichtsen: etwa der nördlichen Bundesländer mit ihren Ansprüchen an den Finanzausgleich. Zu viel Zuwanderung macht die Anteile für die Ansässigen kleiner und ist zu vermeiden, Ausländer sollen Maut auf deutschen Straßen zahlen. Die Erwartungen des konservativsten Teils der Klientel werden gewissenhaft bedient: Betreuungsgeld. Und das Wort eines Ministerpräsidenten von 1954 – die Sudetendeutschen seien Bayerns vierter Volksstamm – lässt auch Seehofer ohne Augenzwinkern gelten. Derzeit posiert er als Wanderer im Abendsonnenschein: die Wahl gewinnen, das Haus bestellen, und dann? Da er zugleich ein Situationist und Spieler ist, weiß niemand, was ihm sonst noch einfällt.
Georg Fülberth porträtierte hier zuletzt
Finanzminister Wolfgang Schäuble
AUSGABE
Dieser Artikel erschien in Ausgabe 36/13 vom 05.09.2013
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