Elender Zustand einer aufregenden Partei

Langzeitfolgen Bei der SPD geht es längst nicht mehr nur um Tages-Taktik, sondern um das wichtigste Problem der Sozialdemokratie: soziale Gerechtigkeit

Die SPD macht auf Geschlossenheit und präsentiert sich doch zerrissen wie lange nicht. Dabei geht es weniger um das parlamentarische Verhältnis zur Linken im Westen, als vielmehr um die Frage, ob sich die Sozialdemokraten in Zukunft von der Agenda-Partei der Schröder-Ära emanzipieren oder die Politik von Hartz IV und Rente mit 67 fortsetzen. Bei der Heftigkeit der Debatte sind personelle Kollateralschäden nicht ausgeschlossen - Parteichef Kurt Beck gilt nach dem Hessen-Debakel der SPD als angeschlagen.


Basis und Überbau - das alte Thema. Ökonomische Ursachen kommen zuerst, die politischen Folgen später. Dies erleben jetzt Kurt Beck und seine SPD. Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und Franz Müntefering haben 1998 bis 2005 Tatsachen geschaffen, die von ihren Nachfolgern ausgebadet werden müssen.

Alles begann mit der Agenda 2010 und ihren schärfsten Spitzen: Hartz IV und Rente mit 67. Partei und Gewerkschaften haben das zunächst mit Geduld getragen, denn zumindest ihre Mandatsträger waren ja nicht die ersten Opfer. Die befanden sich weiter unten. Allerdings hatten sie dann auch nicht mehr viel Lust, SPD zu wählen. Stattdessen entstand "Die Linke", und damit war das bisherige Vierparteiensystem am Ende. Als Kurt Beck auf dem Hamburger Parteitag 2007 einen programmatischen Ruck nach links eher simulierte als der Sache nach vollzog, verfolgte er den Zweck, Lafontaines Partei bei den drei Wahlen des Januar und Februar 2008 scheitern zu lassen. Das ist ihm misslungen. In einem verzweifelten Versuch gab er danach Andrea Ypsilanti grünes Licht für das Experiment einer Tolerierung durch die Linke. Beide stießen dabei auf drei unüberwindbare Hindernisse:

Erstens: Gerhard Schröder hatte wenig Probleme mit seiner Glaubwürdigkeit. Dass er unberechenbar war, machte ihn für manche attraktiv. Beck und Ypsilanti haben es mit dem alten Willy-Brandt-Markenzeichen der Ehrlichkeit und Verlässlichkeit versucht. Der Vorwurf eines Wortbruchs ist damit nicht vereinbar.

Zweitens: Sie haben die Realität ihrer Partei missachtet. Bei den Basis-Urabstimmungen in der hessischen SPD hat Andrea Ypsilanti gegen den "wirtschaftsnahen" Jürgen Walter verloren. Die Delegierten des Landesparteitags, die sie dann doch zur Spitzenkandidatin ausriefen, nahmen Becks Marketing-Losung von Hamburg vorweg. Dagmar Metzger ist nicht irgendwer. Wichtiger als die Oma im Osten ist hier der Seeheimer Kreis.

Drittens: Es geht schon längst nicht mehr um Tages-Taktik, sondern um das wichtigste Problem einer sozialdemokratischen Partei überhaupt: soziale Gerechtigkeit unter Bedingungen, die eine einfache Wiederholung des keynesianischen Wohlfahrtsstaatsmodells wohl nicht mehr zulassen. Nimmt die SPD dieses Thema ernst, könnte sie ihren rechten Flügel verlieren. Macht sie sich von diesem abhängig, verliert sie weiter nach links. Weil es dabei um mehr geht als nur um ihre parlamentarisch-organisatorische Perspektive, ist sie derzeit - trotz ihres elenden aktuellen Zustandes - die bei weitem interessanteste deutsche Partei.

Im Vergleich zu diesem Drama sind die anderen Spiele nach den Wahlen in Hamburg, Hessen und Niedersachsen nicht wichtig. Es handelt sich um die letzten Versuche, in einem Fünfparteiensystem so zu tun, als sei man noch unter sich: CDU/CSU, FDP, Grüne, SPD. Aber in diesem Rahmen gibt es Unvereinbarkeiten. In Hessen ist eine Jamaika-Koalition durch das polarisierende Personal der CDU von vornherein ebenso wenig vorstellbar wie die Ampel. Die FDP würde damit ihre Chancen für die Bundestagswahl 2009 minimieren. Und die Grünen können es sich nicht leisten, ein Bündnis mit der Koch-CDU einzugehen.

In Hamburg gibt es für sie gleich zwei Brücken auf dem Weg in eine Koalition mit der CDU: erstens die viel gelobte Urbanität des Ersten Bürgermeisters Ole von Beust, zweitens die Gelegenheit, erstmals auf Länderebene etwas ganz Neues zu versuchen. Für eine permanente Selbstbindung an die SPD bestehen keine zwingenden sozialen und wirtschaftlichen Gründe. Als zweite liberale Partei repräsentieren die Grünen eine Schicht, die mit der sozialdemokratischen Klientel (gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter, sozial Schwache) nicht viel gemeinsam hat.

Allein in Niedersachsen darf für vier Jahre noch einmal Vierparteiensystem gespielt werden, obwohl die fünfte Partei dort besonders stark im Landtag präsent ist.

Mit solchen Beobachtungen bleiben wir aber immer noch im Überbau. Die Parteien-Arithmetiker werden jedoch nicht darum herumkommen, die sozialökonomische Basis ihres Tuns zu betrachten. Und da werden sie entdecken: Sie haben, dabei ihrerseits dem Druck der "Wirtschaft" (sagen wir es genauer: der Unternehmer) folgend, den alten Wohlfahrtsstaat (von Adenauer bis Kohl) zerstört. Dabei haben sie nicht mit den Folgen für sich selbst gerechnet: dem Verlust ihres bisherigen Vier-Parteien-Oligopols.

Ob die Linke ihrer eigenen Beschaffenheit nach die Qualitäten mitbringt, die für die Mitwirkung an einer Widerherstellung des Sozialstaats benötigt werden, ist unklar. Sie ist Produkt einer Konstellation, die ihr das Thema der sozialen Gerechtigkeit zugeschoben hat. Dieses Problem muss bearbeitet werden, und zwar im Rahmen des Fünfparteiensystems. Denn eine weitere Öffnung wäre dann nur noch nach rechts hin möglich, und das will hoffentlich niemand.

Georg Fülberth liest auf der Leipziger Buchmesse aus seinem neuen Buch Doch wenn sich die Dinge ändern - Die Linke. Er tut dies am 15. März um 14.00 Uhr im Sachbuchforum, Halle 3, Stand 302. Außerdem gibt es am gleichen Tag um 20.00 Uhr auf einer Abendveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Diskussion zum Buch. Veranstaltungsort: Harkortstraße 10 in Leipzig.

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