Gesicht

Rebell Am 9. Juni wird Eric Hobsbawm 90

Als die Mauer umgefallen war, die Konservativen und Liberalen triumphierten, die Kommunisten davonliefen, Francis Fukuyama das Ende der Geschichte ausrief: in diesem Moment stand plötzlich Eric J. Hobsbawm da, selbst "a lifelong communist". In seinem Buch Das Zeitalter der Extreme (1994) erklärte er den Kombattanten der Systemauseinandersetzung, was sie gerade hinter sich hatten: das "kurze zwanzigste Jahrhundert" (1914-1991).

Es begann als das "Zeitalter der Katastrophen" (1914-1945), setzte sich fort im "Goldenen Zeitalter" der Wohlfahrtsstaatlichkeit (1945-1973), als es allen Menschen besser zu gehen schien denn je zuvor. Selbst die Bewohner(innen) der ehemaligen Kolonien hatten jetzt Hoffnungen und begannen sich deren Erfüllung zu erkämpfen. Wer im östlichen Sozialismus wohnte, hatte später, nach 1989, den Eindruck, dass es noch schlimmer kommen konnte - wenn man jung genug war, Stalin nicht mehr erlebt zu haben, und alt genug, um das, was ihm folgte, mit dem neuen Kapitalismus zu vergleichen.

Der begann 1973 im Westen: als "Erdrutsch", der schnell den Süden und Osten mit sich riss. Alle Probleme, die 1914 aufgebrochen waren, kamen wieder. Allein wegen der "triumphalen Wissenschaftsgebäude von Forschung und Theorie", Naturwissenschaft, Technik und Medizin, werde "das 20. Jahrhundert als ein Zeitalter des menschlichen Fortschritts und nicht primär als Zeitalter der menschlichen Tragödie in Erinnerung bleiben." Wolle man das dritte Jahrtausend nach den theologischen Dogmen des Marktradikalismus aufbauen, "werden wir scheitern. Und der Preis für dieses Scheitern, die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis."

Und was war der reale Sozialismus? Ein Einschluss in der Geschichte des Kapitalismus. Einerseits. Andererseits bleibt die Notwendigkeit "einer umgewandelten Gesellschaft" statt der "Finsternis". Und der Autor hebt in einer völlig unsentimentalen Sprache, deren verhaltene Emotion in jedem Wort durch erlebte und durchdachte Tatsachen gedeckt ist, auf, was gerade verworfen worden war, darunter die Erinnerung an den 30. Januar 1933, "an dem beiläufig auch Hitler Reichskanzler von Deutschland wurde; dieses Datum ist auch ein unvergessener Winternachmittag in Berlin, an dem ein 15-Jähriger und seine jüngere Schwester von ihren benachbarten Schulen in Wilmersdorf auf dem Nachhauseweg nach Halensee waren und irgendwo dazwischen auf ebendiese Schlagzeile stießen. Ich kann sie noch immer, wie im Traum, vor mir sehen." Der Junge war Eric Hobsbawm.

Das Zeitalter der Extreme wurde ein Welterfolg (nicht der erste dieses Autors). Klügere Konservative und Liberale kratzten sich am Kopf. George Soros finanzierte die Übersetzung ins Rumänische. Eric Hobsbawm aber kennt den Preis: "Nothing can sharpen a historian´s mind more than defeat" - es ist die Niederlage, die den guten Historiker macht.

Zuweilen wundert er sich darüber, dass er immer wieder einmal zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist. 1959, als die Guerilla in der Dritten Welt aufgebrochen war und eine neue Generation in den kapitalistischen Zentren noch gar nicht wusste, dass sie demnächst von ihr inspiriert werden würde, erschien Hobsbawms Buch Primitive Rebels, 1962 ins Deutsche übersetzt unter dem Titel Sozialrebellen - die Briganten ohne Partei, vor und neben der Industriellen Rebellion. Wer damals im SDS politisch sozialisiert wurde, kannte es. Bei lesenden Autonomen ist es heute noch Kult. Er aber hat längst schon, während andere weiterhin mit den Problemen von gestern hadern, eine frische Spur aufgenommen: den neuen Nationalismus und dessen schreckliche Erfindungen.

Die Voraussetzungen dieser erstaunlichen Gegenwärtigkeit sind ein solides wissenschaftliches Werk und eine Biographie. Das Werk: unter anderem drei Bände über die Geschichte des langen 19. Jahrhunderts, publiziert zwischen 1962 und 1987. Sie sind zugleich eine Geschichte des Kapitalismus und eine Verteidigung der französischen Revolution gegen die britische und die nordamerikanische.

Das Leben: Geboren 1917 in Alexandria als Sohn jüdischer Eltern, aufgewachsen in Wien, Berlin und London, ausgebildet und politische aktiv im "roten Cambridge", ein Weltreisender, hat er das zwanzigste Jahrhundert in sich aufgenommen und reflektiert es bis heute. Er weiß, was gut daran war: nicht nur das "Goldene Zeitalter" und der wissenschaftliche Fortschritt, auch der Jazz.

Am 9. Juni wird Eric Hobsbawm 90. Ein Interviewband trägt den Titel: Das Gesicht des 21. Jahrhunderts.


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