Anfang der siebziger Jahre begann in der südbadischen Gemeinde Wyhl eine Massenbewegung gegen den Bau eines dort geplanten Atomkraftwerks. Sie war erfolgreich. Das AKW ist nie errichtet worden.
Dieser Kampf ist in das kollektive Gedächtnis der Region eingegangen. In den folgenden Jahrzehnten brachten die Mobilisierungen zum Schutz der gefährdeten Umwelt (im Zentrum: der Protest gegen Atomkraftwerke) die größte Massenbewegung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte hervor. Diese hatte ansehnliche Nebeneffekte: Eine Partei, die Grünen, wurde gegründet und gelangte in Parlamente und Regierungen. Aber den Ausstieg aus der industriellen Nutzung der Kernenergie erreichte sie nicht. Heute gibt es noch immer siebzehn deutsche Atomkraftwerke.
Wer sich diesen Widerspruch zwischen Bewegung und Beharrung erklären will, kann auf düstere demokratietheoretische Gedanken kommen: Das Kapital sei stärker als die Massen. Die westdeutsche Atomindustrie ist in den fünfziger Jahren mit gewaltiger staatlicher Unterstützung auf die Beine gestellt worden, und nachdem sie dann endlich laufen konnte, ist sie offenbar durch nichts mehr aufzuhalten. In der rotgrünen Bundesregierung war ein Vertrauensmann dieser Branche, Werner Müller, Wirtschaftsminister. Ihm gelang es, den baldigen Ausstieg zu verhindern. 2010 setzten die Energiekonzerne eine Verlängerung der Laufzeiten durch. Kapital gegen Demokratie: zehn zu null.
An dieser Erklärung ist viel dran. Aus ihr könnte sich ergeben, dass sich an einem solchen Zustand nie etwas ändert. Erzählen wir lieber schnell eine andere Geschichte:
„Mit allen Mitteln“
Am 12. April 1957 wandten sich achtzehn deutsche Atomforscher – unter ihnen Werner Heisenberg und Otto Hahn – gegen die Absicht der Regierung, die Bundeswehr mit Kernwaffen auszustatten. Ihr Appell endete mit den Worten: „Gleichzeitig betonen wir, dass es äußerst wichtig ist, die friedliche Nutzung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.“ Wirklich, hier steht: „äußerst wichtig“ und „mit allen Mitteln“.
Das Bekenntnis zur friedlichen Anwendung der Kernenergie war damals hegemonial. Als Ende der sechziger Jahre die rechte Mitte die Unterzeichnung des Nichtweitergabe-Vertrages für Atomwaffen bekämpfte, argumentierte sie: Die nichtmilitärische Atomforschung und -industrie werde dadurch behindert. Unter anderem störte man sich daran, dass auch die DDR an diesem Vertragswerk beteiligt war und so (vor dem Abschluss der Ostverträge) eine Art De-facto-Anerkennung zu erreichen schien. So brachte man als Vorwand eine heilige Kuh aufs Eis: die allgemein akzeptierte, ja verehrte friedliche Nutzung der Atomenergie.
Bei deren Billigung war damals nicht Manipulation durch die Macht des Kapitals am Werk, sondern eine ganz selbstverständliche Überzeugung einer breiten Mehrheit, ja: wohl aller.
Dieser Konsens ist heute zerbrochen. Selbst die Verteidiger der Atomindustrie sprechen nicht mehr von einer Zukunfts-, sondern von einer Brückentechnologie. Dass in Deutschland die Sensibilität für die Gefahren der Kernkraft früher geweckt war und stärker ist als in den meisten anderen Ländern, hat wenig mit irgendwelchen romantischen Traditionen zu tun und viel mit der Niederlage von 1945: Das Verliererland mit den zerbombten Städten war ein guter Ort für Friedensbewegungen. Die Angst vor den modernsten Waffen, deren „konventionelle“ Variante man drastisch erlebt hatte, wandte sich schließlich auch gegen die nichtmilitärische Verwendung der Kernkraft.
Ein halb leeres Glas
Dies war zunächst eine nationale Besonderheit. Inzwischen verbindet sie sich mit einer auch international verbreiteten Skepsis gegenüber einem Zivilisationstyp, der mit Ressourcenplünderung und der ruinösen Belastung von Boden, Atmosphäre und Wasser einhergeht. Die Befürworter der Atomkraft machen sich diese Tendenz teilweise zunutze: Wer die Klima-Erwärmung stoppen und die Abhängigkeit vom Erdöl mildern wolle, könne auf Kernenergie nicht verzichten. Nehme man sich Zeit, dann könne Deutschland eines Tages auch Exportweltmeister für die Technologie der erneuerbaren Energien werden.
Ist das Glas für die Atomkraftgegner nun halb leer oder halb voll?
Halb leer. Es scheint, als könnten allenfalls Katastrophen den Ausstieg aus der Sackgassentechnologie befördern, und dies, weltweit gesehen, auch nicht schon heute oder morgen, sondern kurz vor dem Sankt-Nimmerleinstag.
Fortschritt allenfalls durch Crash: Irgendjemand wird hier vielleicht das Wort „Dialektik“ vor sich hinmurmeln.
Georg Fülberth ist Politikwissenschaftler und Historiker. Von ihm erschien unter anderem Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945
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