Im Herbst 2011 durfte gelacht werden. Ein Buch-Cover zeigte den Altkanzler Schmidt und den Abgeordneten Steinbrück vor einem falsch aufgestellten Schachbrett. Im Inneren des Bandes redeten sich beide mit „Helmut“ und „Peer“ und per Sie an und bestätigten einander, wobei der Jüngere den Älteren verhalten anbetete und dieser ihn als seinen politischen Erben empfahl. Das wirkte peinlich. Aufmerksame Beobachter wiesen darauf hin, dass dieses Arrangement Teil einer Kampagne sein könnte, vermuteten dahinter aber eher eine pfiffige Geschäftsidee der Zeit, vielleicht auch der Holtzbrinck-Verlagsgruppe oder von Hoffmann und Campe.
Danach wurde das Marketing im Innenleben der SPD kleingehäckselt. Schmidts Eleve erschien als einer, der zu früh gestartet und dann in einer Troika gelandet war. Jetzt aber ist er nominiert, und es fragt sich, ob er immer noch der kleine Gernegroß am Schachbrett oder jetzt ernst zu nehmen ist und Chancen gegen die amtierende Kanzlerin hat? Dies soll hier zum Anlass genommen werden, die lange Reihe früherer Oppositionspolitiker, die gegen Amtsinhaber antraten, Revue passieren zu lassen. Sie zerfallen in zwei Gruppen: Zählkandidaten oder gefährliche Herausforderer.
Dabei mag das persönliche Format der Bewerber zwar nicht völlig belanglos sein, ausschlaggebend aber ist es nicht. Denn wichtiger als Personen und Events sind gesellschaftliche Grund-Strömungen, die von den Kandidaten genutzt werden können. Die Frage lautet dann: Was hat der eine Kandidat, das der andere nicht hat?
Im Duell zwischen Konrad Adenauer und Kurt Schumacher im Jahr 1949 verkörperte der CDU-Bewerber ein Projekt, das als zukunftsträchtig wahrgenommen wurde: Westintegration, Kampf gegen den Kommunismus an der Seite der stärksten Militär- und Wirtschaftsmacht der Erde. Marshallplan und D-Mark wirkten als Vorentscheidungen zu seinen Gunsten nach. Er gewann. 1953 und 1957 war Erich Ollenhauer nur noch ein Zählkandidat der SPD, denn Adenauer hatte jetzt auch noch den dauerhaften Wirtschaftsaufschwung auf seiner Seite.
Adenauer, Brandt, Schmidt …
Vier Jahre später aber, im Jahr 1961, verkörperte Willy Brandt ein neues Projekt: Flexibilisierung der Außenpolitik (auch zur Öffnung von Märkten im Osten), Modernisierung der Infrastruktur, Erschließung von Begabungsreserven. Dieses Vorhaben trug ihn dann nicht sofort, auch nicht vier Jahre, sondern erst acht Jahre später ins Amt. So lange die Reformagenda noch mitten im Kampf stand, konnten die Christdemokraten Rainer Barzel (1972) und Helmut Kohl (1976) als Zählkandidaten zurückgelassen werden, mochte die Dynamik der Wahlkämpfe sie auch zeitweilig als nicht völlig aussichtslos dastehen lassen.
Mit Franz Josef Strauß war das 1980 anders. Sein Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ nahm ein Stereotyp der Adenauer-Zeit wieder auf, transportierte aber zugleich die wirtschaftspolitische Botschaft von Margaret Thatcher. Demnach galt der Sozialstaat als Zwangsanstalt und die Entfesselung der Märkte als großes Durchatmen. Durch die Bresche, die Strauß damit geschlagen hatte, zog Helmut Kohl zwei Jahre später ins Kanzleramt.
Den Klartext zur von ihm proklamierten „geistig-moralischen Wende“ lieferte das marktradikale Lambsdorff-Papier. Gegen Helmut Schmidt, der dazu nicht bereit war und dem seine Partei auf einem solchen Weg damals auch nicht gefolgt wäre, wurde Kohl der Mann der Stunde.
Aber er schwächelte in den Folgejahren immer mehr, da er aus Angst vor Stimmenverlusten nicht nur auf die Wirtschaftsführer, sondern zwischendurch auch auf den Sozialpolitiker Norbert Blüm hörte. Wohl deshalb ließ Oskar Lafontaine seit dem Jahr 1988 einen Zukunftsentwurf vorbereiten: den sozialökologischen Umbau. Wir wissen nicht, was ohne Mauerfall und Messer-Attacke daraus geworden wäre. Aber sein Konzept widersprach dem – sagen wir es so – Lebensgefühl einer neuen Wirtschaftsgeneration: flotte Renditen an den „Märkten“ statt nachhaltiger Sanierung der Grundlagen der kapitalistischen Ordnung durch gut bezahlte Arbeit und Schonung der natürlichen Ressourcen. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Lafontaine als Kanzler schließlich gegen diesen Trend hätte durchsetzen können. Das nationale Großereignis des Mauerfalls ließ ihn bei der Wahl von 1990 untergehen und wirkte sich auch noch vier Jahre später zu Kohls Gunsten aus. Rudolf Scharping war mal wieder nur ein Routinegegner, ein klassischer Zählkandidat
Helmut Kohls langjährige Förderer aber – unter ihnen dürften sich auch diejenigen befunden haben, deren Namen er in der Schwarzgeld-Affäre von 1999 verschwieg – wurden mit seiner eher hinhaltenden Wirtschafts- und Sozialpolitik immer unzufriedener, ablesbar war das an den Kommentaren der von ihnen gewiss nicht unbeeinflussten Mainstream-Medien. Gerhard Schröder nun, der sich gern als „der Genosse der Bosse“ porträtieren ließ, stellte jene Entschlossenheit dar, die der amtierende Kanzler vermissen ließ. Als Kandidat des Jahres 1998 präsentierte er den Unternehmer Jost Stollmann als seinen Wunsch-Wirtschaftsminister. Und Oskar Lafontaine warb nach links.
Als der nach gewonnener Wahl aber Jost Stollmann verhinderte und stattdessen die Bundesbank und die Börsen herausforderte, wurde Gerhard Schröder, nun Kanzler, in den großen Printmedien abgemahnt. Die Bundesrepublik, so kolportierte man dort, werde zum Gewerkschaftsstaat, vielleicht sei der neue Kanzler auch nicht besser als der alte. Erst nach Oskar Lafontaines Rücktritt ist Gerhard Schröder dann wieder zum Hoffnungsträger derer geworden, die an seinem Vorgänger zuletzt verzweifelt waren – was wiederum im Jahr 2002 schlecht für Edmund Stoiber war. Darauf betätigte sich Schröder, der Wiedergewählte, als Vollstrecker des 20 Jahre alten Lambsdorff-Papiers – ab März 2003 hieß es Agenda 2010. Allerdings drohte die Sozialdemokratie an diesen neuen Gesetzen, der Teilprivatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der Senkung des Spitzensatzes der Einkommenssteuer von ehemals 53 Prozent auf 42 zu zerbrechen. So erhielt Angela Merkel, die kein Kontrastprogramm, sondern nur ein Kraftwort – „durchregieren!“ – anzubieten hatte, 2005 ihre Gelegenheit.
2000 war die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall und anderen kapitalistischen Interessenverbänden gegründet worden. Mit der Kanzlerin war diese Initiative nicht durchgehend zufrieden, sie erschien ihr als zu kompromissbereit. Ihre Chance beruhte auf der Hoffnung, dass die FDP 2009 irre gut abschneiden werde, sodass mit vier Jahren Verspätung doch noch marktradikal durchregiert werden könne. Frank-Walter Steinmeier wirkte daneben nur noch als ein Schröder-Imitator und Statist.
Nun also Peer Steinbrück, der – unabhängig von seiner Fortüne – ein aussichtsreiches Programm hat: die Rettung der Beute, die mit der Agenda 2010 und der Rente mit 67 gemacht wurde, durch Kontrolle der Finanzmärkte. Das ist kein Widerspruch.
Als die FDP 2009 ihr Rekordergebnis erzielte, waren die Voraussetzungen für eine Realisierung ihrer Verheißungen – noch weniger Steuern und mehr Deregulierung – aufgrund der Krise des Vorjahres schon entfallen. Das wurde allerdings erst mit den Bankenrettungen der Folgezeit deutlich. Zugleich war klar: Die Entfesselung der Finanzmärkte – beginnend mit der Aufhebung der festen Wechselkurse 1973 und dem „Big Bang“ an der Londoner Börse 1986 – gefährdet auf Dauer die Stabilität des gesamten Wirtschaftssystems.
Für eine Teilreform steht nun Peer Steinbrück bereit. Die hohen Renditen, die bislang beim Zocken erzielt wurden, müssen nun eben anderwärts hereingeholt werden: durch weitere Senkung der Lohnstückkosten und der Sozialabgaben, beides günstig für den Export. Dass Steinbrück ein Schröder-Mann ist, wird ihm dabei nicht schaden. Der Ex-Kanzler und sein Finanzminister Hans Eichel haben vor Kurzem eine Rechtfertigungsoffensive mit verteilten Rollen gestartet. Schröder: Dank der Agenda 2010 stehe Deutschland derzeit gut da. Eichel: Ja, er habe den Finanzmarkt auch in Deutschland dereguliert, aber CDU/CSU hätten noch viel mehr verlangt – er sei also das kleinere Übel gewesen.
Kohl, Merkel … Steinbrück?
Vor Monaten war aus dem linken Flügel zumindest in der Provinz noch da und dort die Drohung zu hören: Für einen Kandidaten Steinbrück werde man nicht in den Wahlkampf ziehen. Das wird sich legen, denn die Spitzenvertreter dieser Richtung haben schon recht deutlich Einverständnis signalisiert. Hier findet man: Eine siegreiche SPD mit einem auch von vielen Unternehmern geschätzten Kandidaten ist besser als das Verbleiben in der Opposition. Man wird sogar inhaltlich Gefallen an Steinbrück finden: wegen seines Versprechens, die Finanzmärkte bändigen zu wollen. Dies ist ja das Mantra all derer – innerhalb und außerhalb der SPD – die sich der Linken zurechnen. Die antikapitalistische Rhetorik der Feuilletons, die seit Jahren im Schwang ist, ja sogar die Demonstrationen gegen die Welt der Banken – sie werden Steinbrücks Wahlkampf beflügeln, ohne dass er ihren radikaleren Wortführern das geringste Zugeständnis machen muss.
Weil: Der frisch gekürte SPD-Kanzlerkandidat gehört der IG Bergbau, Chemie, Energie an. Die ist gegen eine umverteilende Steuer- und Abgabenpolitik, die IG Metall letztlich auch. Mit diesen beiden stark an der Ausfuhr orientierten Gewerkschaften wird Steinbrück keine Schwierigkeiten haben. Und: Indem er eine Ampelkoalition nicht völlig ausschließt, ermutigt er die Sponsoren der FDP. Es rentiert sich wieder, in diese so oft totgesagte Partei zu investieren. Dass die SPD sich Steinbrück leisten zu können meint, zeigt, dass sie keine Angst vor der Linkspartei mehr hat.
Ob er im nächsten Jahr wirklich Kanzler wird, ist nicht in erster Linie wichtig: Der von ihm vorgeschlagene leichte Richtungswechsel in der Wirtschaftspolitik kann auch von anderen realisiert werden, vielleicht sogar von Angela Merkel. Falls Steinbrück scheitern sollte, mag ihm eine Zeile der Ballade „Tord Foleson“, die in der alten Arbeiterbewegung gern gesungen wurde, Trost spenden: „Das Banner kann stehen, wenn der Mann auch fällt.“
Georg Fülberth schrieb zuletzt über die geistig-moralische Wende des Jahres 1982
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