Ohne Retourbillett

CASTOR, MARSCH! Die grüne Spitze fürchtet nicht die Basis, sondern Zweifel an ihrer Regierungstauglichkeit

Die Führung von Bündnis ´90/Die Grünen hält nichts von friedlichen Blockaden der nächsten Atomtransporte. Wer diese Partei, ihren inneren Zustand und ihr Umfeld nur gelegentlich zur Kenntnis nimmt, wird jetzt wieder fragen, ob sie sich mit dieser Orientierung nicht in existenzgefährdender Weise von ihrer Basis entfremde. Dies ist zu verneinen. Die leitenden Personen der Grünen wissen, dass es die "Basis", auf welche sie sich einst beriefen, kaum noch gibt. Der Rest ist in den Fragen, bei denen es seitens der Führung veränderte Parolen gibt - Jugoslawien-Krieg, Atomkonsens -, gespalten. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass die übrig gebliebenen "Bewegungen" nach wie vor durch die von ihnen bislang begünstigte Partei beeinflusst sind. Manche raten schon deshalb zur Gelassenheit, weil man gar nicht wisse, wie viele Leute sich nach mehrjähriger Pause noch gegen die Castoren auf die Beine bringen ließen. Insofern ist die Entscheidung des Ministers Trittin und der Parteiführung kühl kalkuliert. Wer Trost braucht, kann sich an den abweichenden Landesverband Niedersachsen halten oder an die Grüne Jugend - sie hat die Kronprinzen-Opposition von den Jusos gelernt. Jedenfalls fürchtet man die Konfrontation mit einer wahrscheinlich nur schwachen außerparlamentarischen Bewegung, die aber noch zu lokalen Eskalationen mit schädlicher Medienwirkung imstande sein mag, weniger als etwaige Zweifel an der eigenen Regierungstauglichkeit.

Immerhin gibt es das, wenngleich auf Jahrzehnte angelegte und deshalb langfristig wenig glaubwürdige, Szenario des Ausstiegs aus der Kernenergie. Die neuen Transporte widersprechen ihm nicht, im Gegenteil: Rücknahme des aufbereiteten Materials während der Restlaufzeiten gehört dazu. Wollten die Grünen jetzt eine Bewegung unterstützen, die sich zu dieser Entscheidung zumindest dysfunktional verhält, würde ihnen vorgehalten, sie gefährdeten langfristig sogar den Ausstieg. (Vielleicht stimmt das gar nicht, weil die AKW-Betreiber, die als Multifunktions-Konzerne nicht auf ewig mit dieser Energie verheiratet sind, ihr Kapital ohnehin woanders anlegen wollen. Das hat aber mit wöchentlichen Umfragewerten und den mit Monaten rechnenden wahltaktischen Überlegungen nichts zu tun.) Ganz wichtig: der Atomkonsens ist von einem Grünen-Parteitag offiziell abgesegnet worden. Die Castor-Transporte gehören zum Kleingedruckten, aber sie stehen drin.

Die grüne Führung - grundsolide - hat offenbar beschlossen, sich nur noch auf das zu verlassen, was sie tatsächlich hat. Sie weiß, dass die vielberufene Basis nicht aus irgendwelchen Bewegungen besteht, die kommen und gehen, sondern aus einem Teil der Intelligenz als Massenschicht. In ihrer Aufstiegsphase haben die Grünen ein Segment innerhalb einer Generation an sich gebunden. Das stirbt sich nicht so schnell. Dieser Stamm macht - wie bei der FDP - gewiss weniger als fünf Prozent aus. Er muss also durch Wechselwähler ergänzt werden. Sie hofft man durch effizientes Regierungshandeln - und sei es beim Rinderschlachten - und Akzeptanz in den Medien hinzu zu gewinnen. Nachdem die Grünen jetzt an die 28 Monate in der Regierung sind, haben sie keinen Rückfahrschein mehr. Man fragt sich, was aus der Partei wird, wenn sie irgendwann einmal - und sei es auch erst in fernerer Zukunft - wieder in die Opposition muss.

Da Fischer, Künast, Trittin, Kuhn, Roth, Kerstin Müller und Schlauch das auch nicht wissen, wollen sie es gar nicht erst dahin kommen zu lassen. Das macht sie erpressbar und veranlasst sie zur Arbeitsteilung: die einen ziehen durch, die anderen bieten Moderation an. Einige von ihnen haben offenbar das, was sie früher noch als äußeren Zwang wahrgenommen haben mögen, so sehr verinnerlicht, dass sie es nicht mehr als Zumutung empfinden werden, sondern als ihre eigene Sache. Auf diese Weise wirken sie dann wieder glaubwürdig.

Am Ende müssen sie sich sogar vor einer künftigen Oppositionsrolle weniger fürchten, als es zunächst den Anschein haben mag. Politik ist Börse und Event. Eine durchgehend konservative Situation reproduziert sich durch jähe Wendungen und Wechsellagen. Die Umstände, unter denen die Grünen irgendwann einmal wieder aus der Regierung müssen, können neue, heute noch unabsehbare günstige Optionen für sie enthalten. Der Ballast von gestern - ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei - würde dann vielleicht nur stören. Die Grünen überschreiten nicht den Rubikon. Er liegt seit dem Jugoslawienkrieg ohnehin hinter ihnen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden