Als am 28. April 1983 der stern mit dem ersten Abdruck von Hitler-Tagebüchern erschien, lag die Auflage nicht wie üblich bei 1,8 Millionen Exemplaren, sondern bei 2,2 Millionen. Der Preis pro Heft stieg von drei auf 3,50 DM. Am 6. Mai wurde bekannt, dass es sich um eine Fälschung handelte. Die Serie wurde gestoppt. Die verantwortlichen Redakteure verloren ihren Job, die Auflage brach ein. Es war die größte Presse-Blamage in der Geschichte der Bundesrepublik.
Relativ am besten kam noch der Fälscher selbst davon. Konrad Kujau, ein Maler und Lebenskünstler, Filou, eher unpolitisch, aber doch mehr rechts als Mitte, wurde zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, erkrankte an Kehlkopf-Krebs und wurde nach drei Jahren entlassen. Er nutzte seine durch den Skandal erworbene Berühmtheit: im Fernsehen und durch die Gründung eines Ateliers, in dem „Original-Kujaufälschungen“ angeboten wurden. Wikipedia nennt ihn gar einen „Aktionskünstler“. Der Spielfilm Schtonk hatte seinen Coup zur Vorlage.
Ganz Deutschland – im Westen ohnehin, aber wohl auch im Osten – lachte, das Ausland ebenso, und dies nicht zum ersten Mal über einen kriminellen Streich: Der Schuhmacher Friedrich Wilhelm Voigt (1849 – 1922) hatte schon zahlreiche Vorstrafen und 15 Jahre Zuchthaus hinter sich, als er sich 1906 eine Uniform verschaffte, Gardesoldaten unter sein Kommando stellte, den Bürgermeister von Köpenick (damals: Cöpenick) verhaftete und die Stadtkasse an sich brachte. Nach seiner neuerlichen Haft wurde seine Stimme auf Grammophon aufgenommen, er fand sich in einem Wachsfigurenkabinett dargestellt, ging auf internationale Tour – unter anderem für den Zirkus Barnum – und verdiente immerhin so viel Geld, dass er sich ein Auto und ein Haus kaufen konnte. Carl Zuckmayer verewigte Friedrich Wilhelm Voigt im Drama, Heinz Rühmann verkörperte ihn im Film.
Die beiden kriminellen Aktionen hatten ihre eigene politische Symptomatik. Voigts Streich konnte gelingen dank des Militarismus, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die deutsche Gesellschaft durchdrang und sie hörig gegenüber Uniformen machte. Ein vergleichbarer Hintergrund fehlte auch der Stern-Affäre nicht, was schnell erkennbar wird, wenn man den Vorgang chronologisch erzählt: Kujau gab schon Mitte der siebziger Jahre seine angeblichen Hitler-Tagebücher an einen Militaria-Sammler mit dem Namen Fritz Stiefel. Ihn kontaktierte 1980 der Stern-Reporter Gerd Heidemann. Der war Berichterstatter auf mehreren afrikanischen Kriegsschauplätzen gewesen und entwickelte in seiner Freizeit ein Interesse an Gegenständen und Menschen, die etwas mit dem III. Reich zu tun hatten. Bei einer seiner Hochzeiten waren der SS-General Wilhelm Mohnke und der SS-Obergruppenführer Karl Wolff Trauzeugen.
Die Hitler-Tagebücher wurden zur Chefsache
Heidemann erwarb Görings Jacht Carin II für 160.000 DM, verschuldete sich dadurch und wollte sie deshalb an Stiefel weiter veräußern. Dort erfuhr er von den Tagebüchern, bot eine Million, die er nicht hatte, und suchte Abnehmer. Die fand er 1981 beim Vorstandsvorsitzenden des Verlagshauses Gruner und Jahr, Manfred Fischer, und einem anderen leitenden Herrn dieses Unternehmens, das auch den stern herausbrachte. Dessen Zeitgeschichtsredaktion war zwar von Heidemann ebenfalls schon informiert worden, wurde aber jetzt abgeschaltet, um ein Durchsickern nach außen zu verhindern – die Hitler-Tagebücher wurden zur Chefsache: der Bertelsmann-Chef Reinhard Mohn wurde informiert und war einverstanden mit der Publikation.
Die Echtheit des angeblichen Dokuments war zu prüfen, aber damit nahm man es nicht allzu genau. Der Historiker Eberhard Jäckel hatte bereits 1978 und 1979 von Stiefel und Kujau Hitlertagebücher erhalten, sie zunächst für echt gehalten und 1980 in einer Publikation auf sie verwiesen, aber dann 1981 an prominenter Stelle – in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte – einen Fälschungsverdacht geäußert. Auch Heidemanns SS-Freund Mohnke machte auf Unstimmigkeiten aufmerksam. Das Landesarchiv Rheinland-Pfalz und zunächst auch das Bundesarchiv hielten die Tagebücher für echt. Der Kölner Historiker Andreas Hillgruber und einige seiner Kollegen verlangten eine chemisch-physikalische Untersuchung durch das Bundeskriminalamt. Deren Ergebnisse wollte man beim stern, dessen Redaktion inzwischen einbezogen und Feuer und Flamme war, nicht abwarten. Man druckte und stand wenige Tage später, als das BKA die Fälschung aufdeckte, vor einem Scherbenhaufen.
Ein Fall von Scheckbuch-Journalismus
So weit zur Kriminal- und Possen-Geschichte. Nun zur Politik. Als Erstes fällt auf, dass eine Verlagsleitung zunächst Veröffentlichungspolitik über den Kopf der Redaktion hinweg machte. Dass deren Einbeziehung nichts geändert hätte, zeigt ihre enthusiastische Reaktion, als sie endlich mitmachen durfte. Das führt zum zweiten Punkt: Der Gruner-und-Jahr-Verlag hat für die 62 Bände gefälschter Hitler-Tagebücher 9,3 Millionen DM bezahlt – ein Fall von Scheckbuch-Journalismus. In den sechziger und siebziger Jahren gehörte der stern – wie der Spiegel – zur linken Mitte. Die Zeitschrift unterstützte die Ostpolitik Willy Brandts und trat für ein neues Abtreibungsrecht ein. Jetzt ging es um einen Sensationsgewinn mit einem Thema von rechts. Es war absehbar, dass demnächst das Monopol des öffentlich-rechtlichen Fernsehens fallen würde. 1984 war es so weit. Axel Springer stand vor seinem größten Erfolg. Mit seinem Verlag und Leo Kirch drangen Akteure nach vorn, die mit ihrem Medienstil offenbar jetzt auch Teile der seriöseren Presse (darunter der stern) nachahmen zu müssen meinten.
Drittens: 1983 begann man wieder öffentlich über die Beendigung der europäischen Nachkriegsordnung zu reden. Gegen Ende dieses Jahres wurden die US-Mittelstreckenraketen installiert, wodurch schließlich die Kapitulation der Sowjetunion 1990/91 herbeigeführt worden ist. Wer eine Spürnase hatte und sogar über eine Wiedervereinigung zu spekulieren wagte, musste sich Gedanken über die moralische Legitimation eines neuen Gesamtdeutschland machen. Hierher gehörte auch die Beurteilung der NS-Vergangenheit. Mitte der achtziger Jahre begann in der CDU/CSU eine Diskussion darüber, ob am deutschen Nationalstaat festgehalten werden solle. Ihr Fraktionschef Alfred Dregger erklärte den Krieg der Wehrmacht zum Verteidigungskampf gegen den Kommunismus. 1985 stand Kohl mit Reagan in Bitburg vor Gräbern von US-Soldaten und der Waffen-SS. Ein Jahr später begann der Historikerstreit um Ernst Noltes These, der Archipel Gulag sei „ursprünglicher als Auschwitz“ gewesen.
Der Stern-Vorstoß von 1983 gehörte insofern zu einem Trend. Soweit der Inhalt von Kujaus Erfindungen bekannt wurde, ist Hitler dort teilweise ent- und seine Umgebung belastet worden. Dass der stern sich blamierte und Nolte nicht durchkam, steht auf einem anderen Blatt. Bundespräsident von Weizsäcker erklärte 1985 – gegen Dregger – den 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung, nicht der Niederlage. Insofern bildeten die damaligen Ereignisse eine Phase in der Mentalitätsgeschichte einer Generation.
Damit kommen wir zum vierten Punkt: Nachdem Beate Klarsfeld 1968 das ehemalige NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger geohrfeigt hatte, konnte niemand, der öffentlich wirken wollte, zugeben, ebenfalls einmal dieser Partei angehört zu haben. Dabei waren ihr doch sehr viele als 20-Jährige beigetreten. Noch Jüngere waren wenigstens in der Hitlerjugend gewesen und hatten sich an Fahrten und Lagerfeuern begeistert. Ab 1945 öffneten sie sich der Demokratie und spalteten ihre frühen Jahre von sich ab – die gehörten nicht mehr zu ihnen. Aber die eigene Biografie war noch da – und sei es unbewusst. Völlig heraushalten ließ sie sich nicht. Die Stern-Farce rührte an eine Saite, die längst entfernt schien.
Georg Fülberth schrieb auf dieser Seite zuletzt über 50 Jahre ZDF
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