Den Hamburger Beschlüssen der SPD wird eine große Wirkung zugeschrieben: sie seien imstande, die Konkurrenz - CDU/CSU und die Linke - unter Druck zu setzen und das politische Koordinatensystem zu verschieben.
Falls die Linke in ihren westlichen Abteilungen ein Abfallprodukt der Agenda 2010 wäre, müsste dieser Schwenk sie in Verlegenheit bringen. Jetzt wird sie zu zeigen haben, ob sie mehr ist, und falls es ihr gelänge, wäre es sogar gut für sie.
Die Union muss sich mehr einfallen lassen als bisher, um die SPD sozialpolitisch dann und wann einmal links überholen zu können. Im Vorjahr war es ihr mit ihrem eigenen Parteitagsbeschluss über die Verlängerung von ALG I gelungen. Der SPD-Coup ist nicht teuer. Soll das Arbeitslosengeld für Ältere tatsächlich ein Jahr länger gezahlt werden, wird es doch weniger sein als vor Hartz IV. Die Arbeitslosenhilfe für Langzeiterwerbslose bleibt abgeschafft. Der sozialdemokratische Vorschlag zur Pendlerpauschale ist so bemessen, dass die Kürzung nicht in vollem Maße, sondern nur teilweise zurückgenommen würde. Selbst daraus wird jetzt erst einmal nichts. Die Koalitionsrunde hat beschlossen, man wolle ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Auch jetzt schon haben örtliche Finanzämter damit gezögert, die Kürzung zu exekutieren, da sie nicht wussten, ob sie juristisch in Ordnung ist.
Auch die neue Großzügigkeit folgt dem so genannten Sachzwang, genauer: seiner zeitweiligen Lockerung. Die Wirtschaft läuft gut. Geht die Zahl der Arbeitslosen zurück, ist die Bundesagentur für Arbeit besser bei Kasse und kann deshalb ALG I erhöhen. Der Spielraum ist größer geworden, also kann mehr verteilt werden. Das gilt auch für die Tarifabschlüsse, vielleicht sogar für die Renten.
Im Grunde sollte es CDU und CSU nicht schwer fallen, die Hamburger Herausforderung anzunehmen. Der Wirtschaftsflügel der Union wird seine Pflicht-Statements abliefern, aber vielleicht denkt die Kanzlerin daran, dass es immer wieder einmal einen Primat der Politik geben muss und dass sie ihren Paten von der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" nicht einmal einen Gefallen täte, wenn sie ihnen stets gehorsam wäre. Wegen der Bemessung des Arbeitslosengeldes I wird man sich streiten, bevor man zu einem Einvernehmen kommt. Bei der Ausdehnung des Mindestlohns über den Bereich der Post AG hinaus ist Angela Merkel jetzt schon flexibler als noch vor ein paar Tagen. Wenn sie es geschickt anstellt, könnte sie am Ende als die Vernünftigere, weil zugleich Großzügige, aber auch Maßvolle dastehen, und der Schwarze Peter könnte wieder bei der SPD landen. Was diese jetzt als soziale Grausamkeiten anklagt und korrigiert wissen will, hat sie nämlich zu großen Teilen in der rot-grünen Koalition durchgesetzt. Da gibt es auch personelle Hypotheken, die sich nicht völlig verstecken lassen. Gegen den Mindestlohn bei der Post und seine Ausdehnung auf die ganze Branche mobilisieren der Springer-Konzern und ein Arbeitgeberverband Neue Brief- und Zustelldienste (AGV neue BuZ). Sein Chef ist Florian Gerster, als Präsident der Bundesagentur für Arbeit einst ein besonders prächtiger Repräsentant der Schröder-Politik.
Allerdings wird der Kanzlerin das Manövrieren dadurch erschwert, dass einige der von ihr überholten Unions-Granden gerade jetzt wirtschaftsliberale Positionen herauskehren. Die Kanzlerin soll festgelegt und innerparteilich gestutzt werden. Anders als zu Adenauers Zeiten hat die Union keinen relevanten Gewerkschaftsflügel mehr. Die eine oder andere Landtagswahl 2008 könnte für sie zur Zitterpartei werden, falls - durchaus auch begünstigt durch das aktuelle Linksblinken der SPD - irgendwo doch Rot-Rot-Grün Chancen erhält. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die CDU in eine Schwächephase gerät.
Heraus käme bei einer gelinden sozialpolitischen Kurskorrektur nicht eine Widerlegung, sondern eine Apologie der Agenda 2010 und der steuerpolitischen Beschlüsse der großen Koalition: Sie hätten - so wird gelehrt - die Investitionslaune der Unternehmen gehoben und die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass jetzt wieder mehr verteilt werden kann. Ob das stimmt? Irgendwann wird geprüft werden können, ob der gegenwärtige Konjunkturverlauf einem überzyklischen Trend folgt, der relativ politik-unabhängig ist.
Erst einmal aber gibt jetzt die Ökonomie den Agenda-Parteien die Chance, um endlich einen Schock zu verarbeiten, der Union und SPD 2005 gleichermaßen getroffen hat: die gemeinsame Niederlage bei der Bundestagswahl. Damals zeigte sich, dass Marktradikalismus - ob schwarz-gelb oder rot-grün - nicht mehrheitsfähig ist. Insofern ist das, was jetzt geschieht, tatsächlich schon wieder Wahlkampf. Ist 2009 erst einmal überstanden, und sind wieder härtere Mittel nötig, kann sich zeigen: Sie sind alle noch da.
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