Hält sich die gegenwärtige Faszination durch Barack Obama noch einige Zeit, werden die Soziologen zumindest im deutschen Sprachgebiet wohl bald einen Abschnitt aus Max Webers nachgelassenem Werk Wirtschaft und Gesellschaft zitieren: Es handelt von charismatischer Herrschaft. Was auf den ersten Blick wie eine historische Reminiszenz erscheinen könnte, erweist sich als aktuell für Gegenwart und Zukunft – eine Art Korrektur zur Rationalität und Bürokratisierung der Moderne, welcher der Charismatiker, wie die folgenden Jahrzehnte zeigten, in Wirklichkeit aber selber angehörte.
Charisma wird nicht erarbeitet, sondern verliehen, in der Vergangenheit von einer religiösen Instanz. Wer es hat, gibt etwas davon weiter, ohne sich zu verausgaben. In der Demokratie kommt es nicht von Gott, sondern vom Volk, das sich im Charismatiker spiegelt. Dieser Rolle muss er gerecht werden. Das Charisma wurde für Weber zur Folie für die Gegenwart. Auch andere Sozialwissenschaftler der damaligen Zeit reflektierten viel über die Figur des „dirigente“, des „leader“, deutsch: des Führers. Davon gab es solche und solche.
In den USA war Franklin D. Roosevelt der Inbegriff des demokratischen Führers. Seit einer späten Kinderlähmung körperlich behindert, konnte er den Dingen nicht hinterherlaufen – sie liefen auf ihn zu. Dies verstärkte den Eindruck von Macht, die nicht nur von ihrem Träger ausging. In dramatischen Situationen betete dieser Präsident im Rundfunk vor seinem Volk. Auf Roosevelt bezogen sich einige seiner Nachfolger, nicht nur John F. Kennedy, auch Ronald Reagan.
Alle Charismatiker bieten einen Aufbruch an. Meist geht eine Zeit der Stagnation und des Niedergangs voraus, die durch sie nun beendet werden soll. Die Situation, in der sie antreten, ist noch ungeklärt, deshalb ist Führung willkommen. Dass der Leader zunächst keine eindeutige Botschaft hat, aber den Eindruck erweckt, er werde sie noch verkünden, kommt der Verunsicherung seines Publikums entgegen. Es erwartet von ihm nicht nur die gleichsam passive Entsprechung zu seinen eigenen Projektionen, sondern auch die Demonstration von Tatkraft.
All diese Eigenschaften, Umstände und Techniken finden sich beim Phänomen Barack Obama wieder. Wie Kennedy nach dem kranken Eisenhower in der Sackgasse des Kalten Kriegesund Reagan nach den Demütigungen, die von den USA unter Nixon, Ford und Carter hingenommen werden mussten, verspricht er einen Neuanfang. Er ist nicht nur locker, sondern blickt oft streng und angespannt. Wenn er sein Lächeln anknipst, wirkt dies wie die Belohnung für ein Publikum, dem er zugleich den Eindruck vermittelt, es müsse sich diese Belohnung aber erst noch verdienen, denn die Zeiten sind hart. Für die nichtweißen US-Amerikaner war sein Aufstieg zur Präsidentschaft ein Sieg ihrer „Communities“, während er selbst dies allenfalls zurückhaltend thematisierte. Obama repräsentiert nicht nur den Aufstieg einer benachteiligten Gruppe, sondern ein Land, in dem das möglich ist. Für seinen Wahlkampf 2008 mobilisierte er viele Kleinspenden. Dies war symbolisches Kapital. Zugleich mobilisierte er mehr Zuwendungen von den großen Unternehmen als die Konkurrenz.
So viel zu seiner einstweiligen Wirkung im eigenen Land. Er ist aber zugleich ein globaler Star. Man kann sich sein Gesicht gut auf T-Shirts vorstellen. Schon jetzt ist er für die verschiedensten Oppositionen in mehreren Ländern eine Art Ikone, mit der sich auch die Regierenden gutstellen müssen. In der Außenpolitik hat sein Charisma eine weitere Quelle: die Übereinstimmung zwischen dem Habitus der Person und der Situation des Landes, das er repräsentiert. Es gibt eine Parallele in der jüngsten Geschichte: Gorbatschow, als er 1987 in Washington eine Vereinbarung über den Abbau der Mittelstreckenraketen unterzeichnete und sich 1989 in Bonn einen nächtlichen Vortrag Kohls über die unvermeidbare Wiedervereinigung anhören musste. In beiden Städten wurde er auf den Straßen gefeiert, denn er ratifizierte, was ohnehin geschehen musste. Danach war es allerdings mit dem Charisma vorbei.
Und Obama? Die Führungsrolle der Vereinigten Staaten von Amerika wird nicht der Vergangenheit angehören, aber sie wird wohl modifiziert. Für das groteske Auftrumpfen George W. Bushs haben sich viele seiner Landsleute geschämt, im Ausland führte es zu Häme. Bevor Obama zum G20-Gipfel kam, gab er zu verstehen, zuhören und führen zu wollen. Letzteres kann er auch durch Ersteres. Beim Gruppenfoto stellte er sich in die zweite Reihe. Seine Demonstration von Bescheidenheit wurde Teil einer Inszenierung, die auf Steigerung angelegt war. Die nächste Stufe war die „Rettung“ des NATO-Gipfels, die ihm zugeschrieben wird. Dann kam der Höhepunkt: die Prager Rede. Die europäische Gala lässt sich auch als Vorspiel einer Auseinandersetzung denken, die noch in weiter Ferne – wohl erst in der Zeit nach Obama – liegen mag: die Begegnung mit dem chinesischen Präsidenten gestaltete er geschäftsmäßig.
Max Weber schrieb, Charisma sei eine „typische Anfangserscheinung“. Was danach kommt? Der Alltag.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.