Im Grundgesetz werden die Aufgaben des Bundespräsidenten an verstreuten Stellen recht genau beschrieben. Er vertritt den Staat völkerrechtlich, unterzeichnet Gesetze und Verträge, ernennt den Bundeskanzler, die Minister, hohe Beamte und Richter, löst den Bundestag nach missglücktem Vertrauensvotum auf Vorschlag des Kanzlers auf - er kann Verurteilte begnadigen.
Nirgends steht, dass er Reden halten muss. Es ist ihm auch nicht verboten. Ein Bundespräsident hat dasselbe Recht auf freie Meinungsäußerung wie andere Leute auch. Die deutschen Staatsoberhäupter machen von dieser Lizenz aber so ausgiebig Gebrauch, dass sie mittlerweile daran gemessen werden. Hierin unterscheiden sie sich von den Monarchen, die in Europa einigen sehr alten Demokratien vorstehen. Die sind wahrscheinlich auch deshalb so beliebt, weil sie den Mund halten. Das Volk kann seine eigenen Ansichten leichter in sie hineinprojizieren. Wenn die britische Königin eine Thronrede hält, liest sie vor, was ihr der Premierminister aufgeschrieben hat. Dass ihre niederländische Amtsschwester sich manchmal zu Tagesfragen äußert, fällt deshalb auf, weil es eben eine Ausnahme ist.
Während andere Nationen also ohne Staatsoberhäupter mit Spruchband auskommen, nahm in Deutschland die Nachfrage nach einem Sinnstifter in dem Maße zu, in dem es in der Welt wieder eine größere Rolle zu spielen begann, seit den achtziger Jahren. Der Aufwuchs verunsicherte zugleich: die Fragen nach dem Machtmissbrauch vor 1945 hörten nicht auf. Da ist ein oberster Deuter und Mahner bekömmlich.
Allerdings hielt schon der erste Bundespräsident, Theodor Heuss (1949-1959), gern Reden. Das erschien damals aber eher wie die persönliche Neigung eines alten Professors und stiftete noch keine Tradition. Der Nachfolger, Heinrich Lübke (1959-1969), war rhetorisch unbegabt. Gustav Heinemann (1969-1974) brachte aus seiner politischen Vergangenheit so viel politisches Profil mit, dass er im Amt nichts mehr hinzufügen musste: man wusste ohnedies, wofür er stand. Er war übrigens der erste Präsident, der nicht parteiübergreifend angenommen wurde. (Selbst Lübke war in seiner ersten Amtszeit so beliebt, dass ihm die zweite allseits gegönnt wurde. Erst danach weckte er Zweifel.) Die Union hat Heinemann nicht als ihren Präsidenten akzeptiert. Mit Rau trieb sie dasselbe Spiel. Walter Scheel (1974-1979) hielt sich rhetorisch wenig zurück und äußerte sich zum Beispiel über aktuelle Fragen der Bildungspolitik. Dieser Ansatz brach mit dem wortkargen Karl Carstens (1979-1984) wieder ab.
Aber dann! Mit Richard von Weizsäcker (1984-1994) begann eine neue Ära. Von nun an wurde der Bundespräsident zum ersten Redner der Nation. Er griff am 8. Mai 1985 vernünftig in den Streit um das Verhältnis von Nation und Nazi-Erbe ein, endete aber dann doch eher als räsonierender Populist, dessen Kritik am Parteienstaat den Stammtischen näher war, als er es selbst beabsichtigt haben mag.
Roman Herzog (1994-1999) setzte plumper fort, was Weizsäcker sozusagen feinsinnig begonnen hatte. In seiner Ruck-Rede bekannte er sich zu Dingen, für deren Beurteilung er nicht gewählt worden war, und plädierte für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik in neoliberalem Sinn. Merkwürdigerweise hat damals niemand darauf hingewiesen, dass hiermit etwas Ungehöriges geschah. Nach seiner Pensionierung gab Herzog noch einen faustdicken Hinweis, wie er seine nunmehr verflossene Amtszeit am liebsten gesehen wissen wollte. Er ließ sich von der CDU zum Vorsitzenden einer nach ihm benannten Kommission machen, die Vorschläge zur Einschränkung des Sozialstaats unterbreitete.
Johannes Rau (1999-2004) wäre in seiner Jugend gern Prediger geworden. Auch deshalb fühlte er sich zum Bundespräsidenten berufen. Hier allerdings geriet seine persönliche Neigung in ein Schema, das mittlerweile durch von Weizsäcker und Herzog geprägt war. Seine letzte "Berliner Rede" hielt er hinter einem Pult im preußischen Design: Schwarz-weiß mit Adler. Die Union und der ihr nahe stehende Teil der Presse nahm ihm die Pose nicht ab und behandelte ihn stattdessen wie einen sozialdemokratischen Parteisoldaten. Da ist folgendes dran: Wenn Rau mahnte, Kosten-Nutzen-Denken sei nicht alles, konnte es ihm nicht um eine Korrektur des Schröderschen Neoliberalismus gehen (das darf er gar nicht), also blieb nur das Bemühen um Akzeptanz. Wer den Gürtel enger schnallen muss, wird damit getröstet, dass es nicht nur auf das Materielle ankommt.
Nachdem das Amt des Bundespräsidenten unabhängig von den verfassungsmäßigen Aufgaben, für die er bezahlt wird, zu einer Art ideologischer Großmacht geworden ist, bieten nunmehr FDP, CDU und CSU ihre eigene Stimmungskanone auf: Horst Köhler. Er soll von der Staatsspitze aus Neoliberalismus pur verkünden.
Rotgrün hat dagegen einen weiblichen Rau aufgestellt. Die Abschiedsrede des scheidenden Bundespräsidenten war denn auch eine Art Empfehlung für Gesine Schwan. Sie verspricht, es so zu halten wie er: Wo es sozialpolitisch unvermeidlich nach rechts geht (was soll man machen?), ist zugleich ethisch zu ornamentieren und aus pseudokritischer Distanz um Vertrauen zu werben.
Eine tatsächliche Alternative steht in der Bundesversammlung nicht zur Wahl, und schon gar nicht eine Abweichung von der dominanten Politik. Damit wäre das Präsidentenamt auch überfordert. Letztlich soll ja nur der oberste Notariats-Posten der Nation besetzt werden.
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