Einige Wochen lang hat Deutschland einst den Superstar gesucht, ein andermal per TV in einen Container geblickt. Ein kleinerer Teil des Publikums (nämlich der an Politik interessierte) genehmigt sich jetzt eine andere Aufregung, indem er folgendes wissen will: Wird Kanzler Schröder für seine Sozialstaats-Veränderung eine eigene Mehrheit im Bundestag bekommen, wird er auf die CDU/CSU angewiesen sein oder wird er gar stürzen?
Wolfgang Storz hat in der Frankfurter Rundschau richtig darauf hingewiesen, dass die Frage selbst schon ein Verdummungsprodukt ist. Sie lenkt nämlich von der Tatsache ab, dass auf jeden Fall in den gegenwärtigen parlamentarischen Prozeduren eine Stutzung des Sozialstaates herauskommt, bei der die Reichen ungeschoren bleiben, die Armen ärmer werden und Privatunternehmen - nämlich die als Versicherungen auftretenden Finanzdienstleister - ihren Schnitt machen.
Manche Beobachter, die das immerhin gemerkt haben, warnen, damit werde aus Deutschland eine "Andere Republik". Die Floskel ist abgegriffen. Was könnte diesmal damit gemeint sein?
Der zu erwartende Systemwechsel besteht nicht nur darin, dass eine andere Sozial- und Arbeitsmarktpolitik eingeführt, sondern auch darin, dass eine bessere Lösung verhindert wird. Der Sozialwissenschaftler Gösta Esping-Andersen hat vor längerer Zeit eine Klassifizierung der kapitalistischen sogenannten Wohlfahrtsstaaten vorgenommen und drei Typen vorgefunden: den egalitären skandinavischen, den liberalen angloamerikanischen und den obrigkeitsstaatlichen kontinentaleuropäischen. Fangen wir mit dem letzten an. Hier nötigte der Staat - Bismarck! - Kapital und Arbeit zu einer Kooperation, bei der Ruhe, Ordnung und Ungleichheit gewahrt werden. Einige soziale Zugeständnisse sind dabei unvermeidlich.
Im angelsächsischen - vornehmlich US-amerikanischen - Modell sollen die Bürgerinnen und Bürger ihre Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen, indem sie ihre Vorsorge privat regeln. Einer erheblichen Minderheit gelingt dies nicht. Dagegen haben in Skandinavien einige Jahrzehnte lang die Menschen wohl tatsächlich individuelle und kollektive Selbstbestimmung ein bisschen besser organisieren können als anderswo, und zwar unter demokratischer Nutzung des Staates. Das Modell soll seine Macken gehabt haben, es verblasst derzeit, aber in der BRD hätte von ihm einiges übernommen werden können. Das wäre dann wirklich eine etwas andere Republik geworden: Alle zahlen proportional zu ihrem Einkommen in die Sozialversicherungen ein (oder erledigen das durch Steuern) und erhalten im Alter oder bei sonstigem Bedarf das Nötige zurück, aber umverteilt von oben nach unten und auf gutem Niveau. Es ist das Gegenteil von Herzogs Kopfgeldmethode.
Diese andere Republik wird in Deutschland gerade vermieden. In den fünfziger und sechziger Jahren schien sie sich anzubahnen: im Kalten Krieg und zwecks Aussöhnung mit der bis dahin ungeliebten Demokratie. Bestechung ist immer etwas teurer. Ist sie weder länger nötig noch bezahlbar, steht ein Systemwechsel an, in diesem Fall durch Einbau von Elementen des US-amerikanischen Modells.
Der teils schon vernehmliche, teils noch zu erwartende Protest ist aussitzbar, denn die neue Lösung wird nicht nur Verlierer bringen, sondern auch tatsächliche und scheinbare Gewinner. Im oberen und meinungsbildenden Drittel kann sich ein positiver Saldo durch Senkung der Sozialabgaben und Steuern einstellen. Es gibt auch Pseudo-Gewinner. Das sind diejenigen - vor allem Jüngere -, die solche Wohltaten für sich selbst erhoffen, aber später merken werden, dass sie die Gelackmeierten sind. Zur Zeit wissen sie das noch nicht.
Im Übrigen handelt es sich um ein hölzernes Eisen. Die Marktradikalen werden darauf dringen, dass auf dem beschrittenen Weg weitergegangen wird. Ein Programm haben sie schon: den Bericht der Herzog-Kommission. Er zeigt, dass man es noch viel toller treiben kann als Clement und Schröder. Diese Drohung wird die SPD zusammenhalten und viel stärker disziplinieren als die gegenwärtigen innerparteilichen Angriffe auf Abweichler. (Das Verfahren ist nicht neu. Wehner war in diesem Punkt viel schlimmer als Müntefering.) Die Grünen werden auch deshalb weiter mitmachen, weil in der von ihnen vertretenen Schicht sich auch viele der scheinbaren Reformgewinner befinden.
Interessanter ist die innerparteiliche Auseinandersetzung in CDU und CSU. Schließlich ist es diese Formation gewesen, die einst die sozialstaatliche Ausgestaltung des postfaschistischen deutschen Weststaates mitbetrieben hat. Ohne Adenauer hätte es keine Montanmitbestimmung und nicht die Große Rentenreform von 1957 gegeben. Selbst Kohl erscheint im nachhinein als ein epigonaler Verteidiger dieses Systems. Unter ihm wurde noch die Pflegeversicherung eingeführt. Wird die CDU/CSU zur FDP, dann könnte wirklich eine andere Republik anstehen. Der vielleicht einzige Oppositionelle, dessen Verzweiflung derzeit zum Nennwert genommen werden darf, ist Norbert Blüm.
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