Mit eindrucksvollen 95,65 Prozent der Stimmen hat die FDP-Bundestagsfraktion kürzlich ihren Fraktionsvorsitzenden wiedergewählt. Dafür kann es mehrere Gründe geben. Bereits bevor den Liberalen unter Christian Lindner der Wiedereinzug in den Bundestag gelungen ist, stilisierte er sich als alternativloser Leader und hat bisher passabel geliefert. Die FDP hat gegenwärtig keinen Anlass zur Selbstenthauptung.
Zu den bisherigen Verdiensten Lindners gehört, dass er sie vom Image der Umfallerpartei befreit hat, die, wenn es darauf ankommt, im Wahlkampf proklamierte Prinzipien für eine Regierungsbeteiligung fallen lässt. Der Aufritt, mit dem er im November 2017 die Koalitionsverhandlungen platzen ließ, war aufsehenerregend. Es gibt Vermutungen, dass es ihm lediglich darum gegangen sei, Angela Merkel loszuwerden und durch Armin Laschet zu ersetzen. Das ist weder ausgeschlossen noch zwingend: Politik braucht immer mehrere Optionen. Welche schließlich benutzt wird, ist situationsabhängig.
Näher liegt, dass Lindner die Gefahr witterte, dass seine Partei in einem Kompromiss zwischen Grünen und Union kaum sichtbar sein und wieder, wie zwischen 2009 und 2013 in der Koalition mit der CDU/CSU, ihre Klientel enttäuschen werde. Dann also besser Opposition. Hier spielt die FDP zwei Karten: Marktwirtschaft und das, was sie „Technologieoffenheit“ nennt.
Jede Maßnahme der Regierung misst sie an der reinen Lehre vom ungehemmten Wettbewerb ohne staatliche Intervention. Allerdings gehört zum klassischen liberalen Credo auch ein fester Rahmen für das freie Spiel der Kräfte. In der Klimapolitik ist das für die FDP eine Obergrenze für den CO₂-Ausstoß. Steht er, gilt: Emissionshandel ohne politisch gesetzte Preise, keine Klimasteuern und Verbote. Durch all diese Übel werde Innovation in der Umwelttechnologie blockiert: Vorfahrt für Ingenieurs-Intelligenz, zu der insbesondere Lindner eine demonstrative Nähe vorführt.
Darüber hinaus begeisterte er sich jüngst für die Internationale Automobil-Ausstellung und hält sich für berufen, SUV-Hersteller sowie -Fahrer gegen angebliche Nachstellungen zu verteidigen. In der Wohnungspolitik verhindern nach Auffassung der FDP Mietpreisbremsen die Anwendung der für sie einzig anwendbaren Mittel: Neubau durch die Renditeversprechen entfesselter Märkte.
Angst vor Steuern
Es ist keine Koalition vorstellbar, in der solche ultraliberalen Rezepte pur umgesetzt werden könnten, auch nicht zusammen mit der CDU. Diese musste die marktradikale Wende, die sie 2003 unter der Vorsitzenden Merkel vollzog, ab 2005 in der schwarz-roten Regierung und da insbesondere in der Krise von 2008 leicht begradigen, und ist auch später nicht mehr ganz auf sie zurückgekommen. Solche Manövriermöglichkeiten hat die FDP in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht: Seit sie mit dem Lambsdorff-Papier von 1982 ihre kurzlebige sozialliberale Episode liquidiert hat, ist sie die Markt-Partei, basta. Sonst hat sie nicht mehr viel Eigenes mitzubringen.
Trotz dieser schmalen Ausstattung legt sie Wert darauf, koalieren zu können. Das hat sie in 70 Jahren BRD 41 Jahre lang getan, und es ist für sie der zentrale Ausweis ihrer Politikfähigkeit: immer als kleine Partnerin ohne Chance, aus dem Kanzleramt heraus die Richtlinien zu bestimmen. In solchen Konstellationen schrumpft ihr Marktradikalismus zum Korrektiv.
Aber auch in der Opposition hat sie Schwierigkeiten, ihre Unverwechselbarkeit tatsächlich zu belegen. Auf Technologieoffenheit hat sie kein Monopol. Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und studierter Physiker, explodierte in einer Talkshow einmal höchst eindrucksvoll: Was seien das für Zeiten, in denen ein Rechtsbruch – er meinte die Schulstreiks „Fridays for Future“ – nötig sei, um auf Probleme hinzuweisen, an denen innovative Umweltpolitik schon seit Jahren keineswegs erfolglos arbeite.
Als Beispiele nannte er eine auf längere Sicht mögliche Schließung des Ozonlochs und die zeitweise (wenngleich durch neue Entwicklungen wieder konterkarierte) Verlangsamung des Waldsterbens. Gegen einen solchen Auftritt mögen FDP-Bekenntnisse zu Power-to-X-Technologien eher als Bewerbungen wirken, doch bitte auch als Experten ernst genommen zu werden.
Die Abgrenzung der Liberalen von der AfD erscheint zwar aufrichtig, doch kann es passieren, dass ihr Horror vor Steuern und Abgaben und ihre Nähe zur Industrie ihnen in die Quere kommen. Ebenso wie die Partei von Alice Weidel und Alexander Gauland fordert die FDP die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Die AfD hat sich zwar von ihrem marktliberalen Gründungspersonal verabschiedet, nicht aber von dessen wirtschaftspolitischen Auffassungen. So ergibt sich eine Schnittmenge.
In einem FAZ-Interview warnte Lindner vor einer Deindustrialisierung Deutschlands und erwähnte den Morgenthau-Plan, eine 1944 vom US-Finanzminister Morgenthau veranlasste Initiative zur Umwandlung Deutschlands in einen Agrarstaat nach dem absehbaren Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg.
Gewiss wollte Lindner damit nicht im Wählerreservoir der AfD fischen, und vollends antisemitische Assoziationen dürften ihm fernliegen. Es mag ein Ausrutscher beim Haschen nach verbalem Bombast gewesen sein. Freie Fahrt für freie Bürger, Warnung vor angeblicher Umwelthysterie und die Verteidigung des Fleischkonsums gegen Müsli-Zwang gehören aber gleichermaßen zur Agitation der FDP und der AfD.
Für beide sind die Grünen der Hauptgegner. Die AfD braucht dieses Feindbild zur Mobilisierung. Gegenwärtig hat die FDP die Unvereinbarkeit ihrer Positionen mit denen der Grünen nach vorn gestellt. Dass sie reibungslos mit ihnen koalieren kann, zeigt sich in Schleswig-Holstein. Hält aber der Aufschwung der Grünen an, und sollten sie so stark werden, dass es zu einer absoluten Mehrheit mit der Union reicht, ist es aus mit Jamaika. Also muss die FDP viel daran setzen, sie zu bekämpfen.
Vom Oppositionsbonus leben
Sie wendet sich gegen Seehofers Bereitschaft, Kontingente von Geflüchteten aufzunehmen und fordert mehr Gesprächsbereitschaft mit Russland. Das ist weder AfD light noch neue Ostpolitik, gehört auch nicht zu ihren Kernanliegen, sondern zum Versuch, in möglichst vielen Punkten den Unterschied zu den Großen zu markieren.
Unter den CDU-Kanzlern Adenauer und Erhard war die FDP eine feste Partnerin in einem Bürgerblock gewesen. Danach wurde sie zur Scharnierpartei zwischen SPD und Union. Mit ihrer Umorientierung ab 1982 hat sie diese Möglichkeit vergeben. Ampelfantasien sind nun auf Bundesebene unrealistisch. Werden die Grünen zur neuen Scharnierpartei, wird es eng für die FDP.
Die Umfragewerte liegen nur bei sechs bis neun Prozent. Doch es gibt keinen Grund zur Panik. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen haben die Liberalen zwar keine fünf Prozent erreicht, unterhalb dieser Marke aber zugelegt.
Solange eine unbeliebte schwarz-rote Koalition im Bund regiert, wird die FDP einen Oppositionsbonus haben. Die Mobilisierung aller Parteien diesseits der AfD in den beiden ostdeutschen Ländern schlug zwar vor allem zugunsten der Partei des jeweiligen Regierungschefs aus, für die Liberalen ist aber auch etwas abgefallen. Das ist wohl ein eher schwacher Trost für eine FDP, die sich gegenwärtig im Niemandsland des deutschen Parteiensystems befindet.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.