Vor einigen Jahren sollten aus einer europäischen Bibliographie zur Geschichte des Faschismus die DDR-Beiträge gestrichen werden. Die betroffenen Autorinnen und Autoren haben (letztlich sogar erfolgreich) protestiert, teils zu Recht, teils zu Unrecht. Zu Recht deshalb, weil in keinem Land so gründlich zu diesem Thema geforscht und publiziert worden ist wie in der Deutschen Demokratischen Republik. Zu Unrecht aber auch, weil natürlich die herrschenden Gedanken immer die Gedanken der herrschenden Klassen sind und es nicht einsichtig ist, weshalb die Sieger sich noch die Meinungen der Verlierer anhören sollten, zumal es sich - soweit man unter Historikern ist - lange genug auch noch um lästige Konkurrenz gehandelt hat. Wer eine Humanwissenschaft treibt, tut dies innerhalb eines politischen Rahmens, auf den diese sich (ob man will oder nicht) bezieht. Fällt dieser Kontext weg, verschwindet die entscheidende Voraussetzung für das, was da gedacht und geschrieben wurde. Max Weber zeigte das sogar am Beispiel der Medizin: sie hat die wertende Voraussetzung, dass es sinnvoll ist, Leben zu erhalten und Schmerz zu vermeiden. Die Theologie ist eine Wissenschaft unter der Bedingung, dass geglaubt wird.
Insofern ist es sehr verständlich, wenn seit dem Untergang der DDR Intellektuelle, die dort jahrzehntelang gearbeitet hatten, sich Gedanken darüber machten, was davon denn jetzt noch übrig bleiben könne. Dabei interessieren nicht die Wendehälse und auch nicht die Trotzdem-Rechthaber, sondern diejenigen, bei denen ein unverbogenes Rückgrat und ein heller Kopf im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Zu ihnen gehört der Historiker Wolfgang Ruge. Er war einer der überzeugenden Vertreter seines Faches in der DDR. Auf seinem Spezialgebiet: Weimarer Republik, Vorbereitung des Faschismus, gelang es ihm, Klassenkonstellationen im Handeln von scheinbar leitenden Personen sichtbar zu machen. Da verstand man wirklich, was das ist: eine Charaktermaske. Hinzu kam, dass Ruge über ein gediegenes schriftstellerisches Talent verfügte (und verfügt), das sich in mehreren Biographien (zum Beispiel über Stresemann und über Hindenburg) bewies.
Nach 1989 schrieb er dann über eine andere Charaktermaske: Stalin. Es war eine scharfe Abrechnung. Am 7. November 2002 erregte Wolfgang Ruge das Publikum des Neuen Deutschland durch seine eigene Interpretation der Oktoberrevolution (die bei ihm jetzt nur noch als "Aufstand der Bolschewiki" firmierte). Er hatte inzwischen eine Art anthropologischer Konstante entdeckt: die Lust am Privateigentum und an der Macht. Ist der erste Faktor zu schwach ausgebildet, wütet der zweite umso schlimmer, siehe Stalin. An diesen Tatsachen blamiert sich jede Revolution, die sie überschreiten will. Wo hat Wolfgang Ruge das her? Es gibt einen biographischen Hintergrund. Diesen hat er nun - sein Talent zur Personalbeschreibung auch auf sich anwendend - offengelegt: in seinen Erinnerungen an die Jahre 1933 - 1956. Hier erfahren wir Folgendes:
Der Autor, Jahrgang 1917, ging 1933 in die Sowjetunion, ebenso seine Familie. Der Bruder wurde verhaftet, der Vater an Nazi-Deutschland ausgeliefert. Als Hitler die UdSSR überfiel, wurde Wolfgang Ruge als feindlicher "Deutschländer" von Moskau nach Kasachstan ausgesiedelt. Bald darauf kam er als Zwangsarbeiter zum Holzfällen nach Sibirien. Nach dem Krieg blieb Ruge in der Verbannung. Er konnte dort mit List ein Fernstudium absolvieren. Als er 1956 endlich ausreisen durfte, wählte er die DDR. Dort bot ihm - immerhin dem studierten Sohn einer nicht völlig einflußlosen Funktionärin - das Politbüromitglied Karl Schirdewan vier attraktive Jobs an. Er entschied sich für eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften und begann dort seine eindrucksvolle wissenschaftliche Laufbahn. Dem "manchmal auftauchenden Gedanken, dass ich möglicherweise aufs falsche Pferd gesetzt habe" (er meint damit seine frühe Entscheidung für den Sozialismus), ging er zunächst nicht weiter nach.
Jeder Satz dieses Buches gehört zum Leben von Wolfgang Ruge. Zugleich sind die von ihm geschilderten allgemeinen Tatsachen nicht neu: sie stehen auch bei Solschenizyn und Buber-Neumann. Sein Bericht konterkariert nicht seine Arbeiten über die Vorgeschichte des 30. Januar 1933, denn für beides gilt: es stimmt. Und doch hatte die Anatomie der Weimarer Republik durch die DDR-Wissenschaft eine doppelte Funktion: Enthüllung des Kapitalismus und Propagierung der besseren Sache. Letzteres fehlt hier.
Es spricht für diesen Autor, dass das hellste Licht nicht auf ihn fällt, sondern auf seine zweite Frau Veronika, eine Russin. Sie wurde mit ihm nach Kasachstan deportiert und von ihm getrennt, als er nach Sibirien mußte. Auch sie geriet unters Rad: ihr Leben wurde nicht zerstört, aber nachhaltig beschädigt. Als sich die beiden nach Jahren wieder sehen, bleibt nur die Scheidung. Das vor allem bittere, teils auch burleske Ende dieser Meisternovelle (der Erzähler gerät auf der Rückreise von der Scheidung in eine kurze sexuelle Affäre mit einer jungen Schwarzhändlerin), die dem Autor nebenbei und unbeabsichtigt gelungen ist, hebt die allgemeine Tristesse nicht auf, sondern vertieft sie.
Spätere Erlebnisse färben wahrscheinlich die früheren. Am 25. Januar 1933 nahmen (offenbar ohne einander zu kennen), zwei knapp 16-Jährige an der Demonstration der KPD zum Karl-Liebknecht-Haus in Berlin gegen den Faschismus teil. Beide waren Mitglieder des Sozialistischen Schülerbundes. Der eine, Erich Hobsbawm, hebt heute noch das Flugblatt mit den Liedern auf, die sie damals gesungen haben. Der andere, Wolfgang Ruge, berichtet ebenfalls von "Begeisterung" und "herzerfrischender Genugtuung" - und doch erweckt der Kontext den (wahrscheinlich zutreffenden) Eindruck, als sei auch da schon irgendwie der Wurm drin gewesen.
Wolfgang Ruge: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration. Pahl-Rugenstein Nachf., Bonn 2003, 452 S., 28,00 EUR
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