Versunkener Feiertag

1953 Im Westen wird der 17. Juni bis 1990 als Tag der Deutschen Einheit begangen und für Ausflüge ins Grüne genutzt. Peinlich, wenn man dabei an etwas Nationales denken soll
Ausgabe 24/2013

Der 17. Juni 1953 fiel in einen Bundestagswahlkampf. Dessen Ausgang mag er beeinflusst haben, entschieden hat er ihn nicht. Dass die KPD an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern würde, hatte sich seit Längerem abgezeichnet. Die SPD rief die Wahl zur Volksabstimmung über die Wiederaufrüstung aus. Doch schien das Eingreifen sowjetischer Panzer am 17. Juni 1953 in Ostberlin Adenauers Behauptung von der Gefahr aus dem Osten, gegen die man sich bewaffnen müsse, zu bestätigen. Die CDU plakatierte in Richtung SPD: „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau!“ Nach ihrer Niederlage im Kampf um das Betriebsverfassungsgesetz 1952 appellierten die Gewerkschaften: „Wählt einen besseren Bundestag!“ Inzwischen war die Wirtschaft in Schwung gekommen. Das half der Union. Dass in Ostberlin Arbeiter gegen ihre Lebensumstände revoltierten, zeige ja, in welchem Teil Deutschlands man besser aufgehoben war. Also konnte die Bundesregierung nicht alles falsch gemacht haben. In dramatischen Situationen sammelt sich das Volk gern hinter der Exekutive. Insofern half der 17. Juni der Union, die aber auch ohne ihn nicht viel zu fürchten hatte.

Endgültig abhängig

Was an diesem Tag tatsächlich in der DDR passiert war, ging in der innenpolitischen Wahrnehmung der Bundesrepublik unter. Bauarbeiter revoltierten gegen Normerhöhungen, nachdem die Regierung kurz zuvor in Aussicht gestellt hatte, Belastungen für die verbliebenen bürgerlichen Schichten des zweiten deutschen Staates zu mildern. Sie hatten es satt, dass die Umstrukturierung der DDR seit der 1952 ausgerufenen Errichtung von Grundlagen des Sozialismus allein von ihnen zu tragen war. So konnte die SED den von ihr gerade eingeleiteten Kurs nicht weiter forcieren. Vor allem mussten Kompromisse mit der Klasse gesucht werden, auf die sie sich berief. Dies ist offenkundig nie gelungen. Ergebnis war der 13. August 1961. Damit war die DDR endgültig zur abhängigen Variablen des Kräfteverhältnisses im Kalten Krieg geworden, dessen Ausgang über sie entschied.

Am 4. August 1953 erklärte der Bundestag den 17. Juni zum „Tag der Deutschen Einheit“. 1954 wurde der erstmals begangen – 1963 rief ihn der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke zum „Nationalen Gedenktag des deutschen Volkes“ aus. Diese Variation hatte es in sich. „Gedenken“ bezieht sich eher auf Vergangenheit als auf Zukunft. Also musste seit 1953 etwas geschehen sein.

Der ursprüngliche Feiertag am 17. Juni stand für die Forderung nach alsbaldiger Wiedervereinigung. Aber Regierung und Opposition dachten dabei in verschiedenen Geschwindigkeiten. Kurt Schumacher, der 1952 verstorbene SPD-Vorsitzende, hatte Adenauer nationalen Verrat vorgeworfen: Seine Politik der Westintegration vertiefe die Spaltung Deutschlands. Der Kanzler dagegen war der Ansicht, nur durch eine feste Bindung an die USA und Westeuropa könne die Sowjetunion aus Mitteleuropa hinausgedrängt werden. Welche Fristen er für realistisch hielt, sagte er nicht, aber falls er der Ansicht war, das könne lange dauern, hat er das gut verborgen. So vermochten sich beide Lager hinter dem 17. Juni zu finden: Wiedervereinigung so bald wie möglich.

Da die SPD in der Opposition blieb, konnte sie die Regierung daran messen, wie nahe sie das Land diesem Ziel brachte. Das Ergebnis der Prüfung war: nichts erreicht. Besonders seit Willy Brandt 1957 Regierender Bürgermeister von Westberlin geworden war, wurde die SPD die Partei des 17. Juni. In diesem Geist unterbreitete sie 1959 einen „Deutschlandplan“ zur schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten.

Der 13. August 1961 war die negative Antwort auf den 17. Juni 1953. Das Brandenburger Tor, durch das einst Bauarbeiter nach Westen marschierten, war geschlossen. Als Brandt demonstrativ dorthin eilte und Präsident Kennedy zu irgendeiner Form des Eingreifens aufforderte, wiederholte er zwar noch einmal die alte Symbolpolitik, aber einige meinten damals schon gespürt zu haben, dass damit der Volkszorn in Wirklichkeit nicht angefacht, sondern kanalisiert werden sollte. Wieder war ein Großereignis des Kalten Krieges mit einem Bundestagswahlkampf zusammengetroffen. Aber anders als 1953 sammelte sich das erschrockene Volk 1961 nicht mehr mit gleicher Eindeutigkeit hinter der Regierung. Adenauers Politik schien gescheitert, er büßte Stimmen ein. Außerdem: Sein Herausforderer Brandt trug den Titel „Regierender Bürgermeister“. Auch er verkörperte eine Exekutive, an die man sich anlehnen konnte. Den Nachruf auf die bisherige Bedeutung des Tages der Deutschen Einheit sprach letztlich Egon Bahr in seiner Tutzinger Rede vom 15. Juli 1963: „Aus der Forderung nach geringeren Normen ist am 16. Juni 1953 auf dem Wege von der Stalin-Allee bis zum Haus der Ministerien die Forderung nach freien Wahlen geworden. Die Zügel glitten dem Ulbricht-Regime aus der Hand und konnten nur von den sowjetischen Panzern wieder aufgenommen werden. Das Ergebnis war eine Befestigung der Stellung Ulbrichts.“ Die Lehre hieß: Nicht Konfrontation, sondern Wandel durch Annäherung.

Nicht nur Bahr dachte damals so, diese Überlegung hatte es in Teilen des bürgerlichen Lagers schon vor seiner Rede gegeben. Sie führte zur „Zwei-Zangen-Theorie“: teilweise Anerkennung der nach 1945 entstandenen Realitäten auf deutschem Boden, wenngleich nicht der DDR, sowie Einwirken des Kapitalismus auf den Sozialismus. Was wie ein Nachgeben aussah, war in Wirklichkeit ein Ausdruck von Selbstbewusstsein: Da die DDR-Führung aus dem 17. Juni 1953 nicht die Lehren zog, ihre innere Legitimationsbasis zu erweitern, konnte sich der Westen auf das einlassen, was Nikita Chruschtschow – 1953 bis 1964 KPdSU-Generalsekretär – schon in den fünfziger Jahren proklamiert hatte: vornehmlich auf wirtschaftlichen Wettbewerb innerhalb friedlicher Koexistenz. Da brauchte man keinen Heldengedenktag mehr.

In einer der dramatischsten Sitzungen des Bundestags – am 27. April 1972 anlässlich des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt – wurde der Kanzler wegen seiner Ostpolitik angegriffen und antwortete: „Ja, was wollen Sie, meine Zwischenrufer? Glauben Sie, dass ich hier eine 17.-Juni-Rede halte?“ Das passte also nicht mehr.

Mutmacher für Westberlin

Der Tag der Deutschen Einheit war in der Folgezeit beliebt und peinlich zugleich. Beliebt, weil er in den schönsten Zeit des Jahres Gelegenheit zu Ausflügen ins Grüne gab. Peinlich, wenn man dabei an etwas Nationales denken sollte. Als Chruschtschow 1958 den Viermächtestatus Berlins infrage stellte, hatten westdeutsche Professoren ihre Studenten aufgefordert, sich in Westberlin als Mutmacher zu immatrikulieren. Das taten die denn auch, freilich nicht als Mutmacher, sondern um dem Wehrdienst zu entgehen. Die Außerparlamentarische Opposition, zu der sie beitrugen, war sozialistisch und zugleich antikommunistisch. Sie lachte über Ulbricht ebenso wie über den 17. Juni, nahm Abschied vom Proletariat und hatte so mit den Bauarbeitern von der Stalin-Allee nichts mehr im Sinn.

1989 war das schon längst nicht mehr erwartete Ereignis da. Und ein Jahr später wurde der Tag der Deutschen Einheit auf den 3. Oktober verlegt. Darauf, dass 1953 ein Arbeiteraufstand stattfand, hatte die SPD immer wieder einmal hingewiesen. Die deutsche Arbeiterklasse konnte als ebenso zuverlässiger Faktor des Antikommunismus gelten wie das Groß- und Kleinbürgertum. Auch das war Bestandteil der Amerikanisierung der fünfziger Jahre gewesen. Seit der neoliberalen Wende nach 1973 schien diese Klasse nicht mehr so wichtig. Dabei hat sie mehr zum Sturz der SED beigetragen als die Pfarrer und Künstler im Vordergrund: 1989 nicht durch einen Aufstand, sondern dadurch, dass viele Bau- und Fabrikarbeiter via Ungarn der DDR ihre Arbeitskraft entzogen. Der bürgerliche 3. Oktober in Entgegensetzung zum proletarischen 17. Juni lässt das vergessen.

Georg Fülberth schrieb zuletzt über den stern und die „Hitler-Tagebücher“ von 1983

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