Die Arbeitsplatzbeschreibung des Bundespräsidenten im Grundgesetz ist in erster Linie die eines Notars: Er beurkundet Gesetze und Ernennungen. Daneben hat er Repräsentationsaufgaben.
Diesem verfassungskonformen Bild des Amtes hat Heinrich Lübke bisher am exaktesten entsprochen. Die Kunst der Rede war ihm nicht gegeben. Dass im letzten Teil seiner Amtszeit altersbedingte Schwächen des Ausdrucks hinzukamen, musste seine Arbeitsfähigkeit auf diesem Posten nicht notwendig einschränken. Nur durch weitere Umstände – Nachrede wegen seiner Bauzeichnertätigkeit vor 1945, sich anbahnende sozialliberale Trendwende – ließen ihn dann ungeeignet erscheinen. Schade eigentlich. Er war im Grunde der republikanischste aller Präsidenten: Die Führer-Statur, die ein an die Demokratie noch kaum gewöhntes Volk ersehnte, ging ihm völlig ab. So hätten die Bürgerinnen und Bürger die Chance gehabt, sich auf sich selbst zu verlassen. Immerhin haben seine nächsten Nachfolger: Heinemann, Scheel, Carstens, sich überwiegend aufs Notarielle beschränkt. Allenfalls Scheel zeigte eine gewisse Neigung zu allgemeineren Predigten, dies aber in Grenzen.
Ein Volk erkennt sich
Auch für Bundespräsidenten gilt Artikel 5 des Grundgesetzes: das Recht auf freie Meinungsäußerung. Der erste von ihnen, Theodor Heuss, hat davon ausgiebig Gebrauch gemacht. Von daher kommt die falsche Meinung, der Inhaber dieses Postens werde fürs Reden bezahlt. Bei Heuss wirkte das allerdings eher noch wie eine Art Freizeitbeschäftigung. In seinem ersten Beruf war er Feuilletonist und Kulturjournalist, und das Plaudern setzte er eben in der Villa Hammerschmidt fort. Sein Zigarrenqualm und sein Honoratiorenschwäbisch signalisierten jene Gemütlichkeit, die die Westdeutschen sich so sehr wünschten.
Dies alles sah und hörte sich unpolitisch an und hatte doch eine hochpolitische Funktion: In dem Mann, der 1933 (wenngleich nach eigenem Bekunden widerstrebend) für Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte, erkannte sich ein Volk von Mitläufern (und solchen, die ihre Vergangenheit mit diesem letztlich ja abfälligen Spruchkammer-Befund verkleinern wollten) wieder. Heuss wollte die Aufrüstung vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen und zog sein Gesuch rechtzeitig zurück, als ein für den Bundeskanzler ungünstiges Urteil zu befürchten war. Nicht zu Unrecht zählte ihn Arnulf Baring in seinem Standardwerk über jene Jahre zum „Gefolge“ Adenauers. Kein Wunder auch, wenn das Volk bei Lübke, Heinemann und Carstens immer ein wenig zu frieren oder – besonders bei Letzteren – sich zu langweilen schien.
Dann kam, 1984, Richard von Weizsäcker. Schon seine Kandidatur war ungewöhnlich. Er meldete sie mit einem Buch an: Die deutsche Geschichte geht weiter. Der Titel passte in das Erscheinungsjahr 1983, in dem das Ende von Jalta diskutiert wurde und in dem der Bundestag die – auch von Richard von Weizsäcker in diesem Band gebilligte – Stationierung von Mittelstrecken-Raketen, den Cruise Missiles und Pershing II, beschloss. Zu den Texten, die da wieder abgedruckt wurden, gehörte eine Oppositionsrede aus den Zeiten der inzwischen verflossenen sozialliberalen Koalition, in der es hieß: „Setzen Sie durch, dass der einstmals gemeinsame Ministerpräsidentenerlass bald effektiv und einheitlich zur Anwendung kommt! Es gilt doch zu verhindern, dass in irgendeinem Bundesland unsere Kinder durch radikale Lehrer zur Intoleranz erzogen werden können.“ Er war also für Berufsverbote gegen Radikale im Öffentlichen Dienst. Zugleich signalisierte der Kandidat Zuneigung zur so genannten Alternativbewegung da, wo er den „Übergang zur Selbstverantwortung und Mitverantwortung“ erspürte. Das erste Druckerzeugnis, welches er in seinem Buch zitierte, war die Tageszeitung (taz).
Bis zum bitteren Ende
Als ein Höhepunkt seiner Präsidentschaft gilt eine Rede zum 8. Mai 1985. Mit ihr griff er in einen Unions-internen Streit ein. Alfred Dregger, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU im Bundestag, war der Ansicht, Deutschland sei 1945 nicht befreit, sondern besiegt worden. Der Bundespräsident stellte klar: Das Gegenteil sei richtig. Gewiss hat er damit eine weitere ideologische Rechtsbewegung, die schon ziemlich weit gediehen war (Ernst Nolte bereitete gerade seinen Anteil zum Historikerstreit vor), gestoppt. Die Sache hatte aber auch eine andere Seite: Sie passte zu einer Lebenslüge einer damals noch lange nicht ausgestorbenen Generation, zu welcher der Bundespräsident selbst gehörte. Millionen Deutsche hatten zwölf Jahre lang zu Hitler gehalten und seinen Krieg bis zum bitteren Ende geführt. Hätten sie ihn gewonnen, wären sie sich nicht als Unterdrückte vorgekommen. Es war für sie opportun, wenn sie sich, da sie nun einmal verloren hatten, als Befreite darstellten. Sämtliche vier Siegermächte hatten Anlass, ihnen dies von dem Moment an zu bescheinigen, in dem sie sie als Bundesgenossen im Kalten Krieg heranzogen. Nicht durch die Niederlage erhielten „die Deutschen“ ein zweites Leben, sondern durch den jahrzehntelangen Wirtschaftsaufschwung, die Amerikanisierung, 1968 und – im Osten – 1989. Der 8. Mai 1945 war immerhin der chronologische Anfangspunkt. Dies ist das Moment Wahrheit in der im Übrigen eben auch bedenklichen Rede. Mit ihr gab Richard von Weizsäcker dem Amt des Bundespräsidenten ein neues Profil, das im Grundgesetz nicht vorgesehen war: als Präzeptor und Deuter. Auch zum Tag der Wiedervereinigung 1990 erwartete man von ihm ein Stichwort, das er dann auch lieferte: „Sich vereinen, heißt teilen lernen.“
In der Amtszeit Richard von Weizsäckers verlor der Staat allmählich viel von seiner sozial- und wirtschaftspolitischen Kompetenz. „Teilen lernen“ besagte vor allem, dass es weniger zu verteilen gab, und falls doch, dann von unten nach oben. Von den Parteien erwartete man sich nicht mehr viel, zumindest nichts Gutes. Der im Volk verbreiteten Verdrossenheit an ihrem Treiben gab Richard von Weizsäcker eine Stimme. Seine Mitgliedschaft in der Partei, der er sein Amt verdankte, ließ er während seiner Präsidentschaft (wie wohl auch schon seine Vorgänger) ruhen und anschließend irgendwie auslaufen. Weizsäckers Kritik wurde wohlwollend so interpretiert, er habe rechtspopulistisches Abdriften des Volksempfindens rechtzeitig abgefangen und in distinguierte Mahnung kanalisieren können. Seine Nachfolger kamen nicht umhin, die Kanzel zu besteigen, die er für sich hatte errichten lassen.
Roman Herzog beschränkte sich nicht auf die Ideologiepolitik, sondern beschäftigte sich mit Handfesterem: Im Hotel Adlon fordert er einen Ruck zu mehr Markt-Radikalität.
Johannes Rau betonte eher das Soziale und gab so der Kahlschlagpolitik von Schröder, Clement und Eichel eine gewisse Weichzeichnung. Unter ihm wurden die präsidialen „Berliner Reden“ – hinter einem Pult mit Bundesadler – endgültig zur nationalen Institution.
2004 politisierten Angela Merkel und Guido Westerwelle, die (irrtümlich) annahmen, schon 2006 eine schwarz-gelbe Koalition bilden zu können, das Präsidentenamt so wie vor ihnen nur Konrad Adenauer. Der hatte sich 1959 zunächst selbst zum Staatsoberhaupt wählen lassen wollen, um von dort aus das Wirken ungeliebter Kanzler-Nachfolger lenken zu können. Als er lernte, dass die Ausstattung des Amtes hierfür nicht ausreichte, ließ er es sein. Merkel und Westerwelle forcierten die Wahl eines Präsidenten, von dem sie hoffen konnten, er werde das Sprachrohr ihrer marktradikalen Bestrebungen sein. Horst Köhler ist in seiner ersten Amtszeit diesen Erwartungen gerecht geworden. Nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise machte er diese ebenfalls zum Thema: am Anfang mit der Andeutung einer Selbstkritik, gefolgt von der Einladung ins gemeinsame Boot. 2009 kam endlich die Koalition zustande, der er seit 2004 vorgearbeitet hatte. Als die sich dumm anstellte, verstummte Köhler. Das Volk hatte sich inzwischen so an die Wegweisung durch „Berliner Reden“ gewöhnt, dass es sich nun herrenlos vorkam. Insbesondere die SPD forderte eine Äußerung. So sprach sich Köhler schließlich – insofern denn doch wieder ein Instrument der Politik – für die Merkel-Linie in der CDU sowie gegen Westerwelle und weitere Steuersenkungen aus.
Seit längerer Zeit wird eine Diskussion über Direktwahl des Bundespräsidenten geführt. Besser nicht! Sonst nähme die Entwicklung dieses Amtes zu einer Institution, wie sie 1949 nicht vorgesehen war, noch einmal eine neue Qualität an.
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