Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat jüngst vorgeschlagen, die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation als Provisorium hinzunehmen und den aus diesem Anlass vom Westen 2014 eingeschlagenen Konfrontationskurs nicht fortzusetzen. Damit sind auch die Wirtschaftssanktionen, die damals verhängt wurden, in Frage gestellt.
In vielen Kommentaren wird dieser Vorstoß als Wiederaufnahme der Ostpolitik von Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher gesehen. Das mag Anlass sein, die Behauptung einer solchen Kontinuität näher zu überprüfen. Dabei empfiehlt es sich, noch viel weiter zurückzugehen.
Thomas Dehler, zeitweilig Vorsitzender der FDP (1954 – 1957), warf Adenauer 1958 im Bundestag vor, 1952 die Wiedervereinigung verspielt zu haben. D
pielt zu haben. Damals hatte die Sowjetunion den drei Westmächten die Herstellung eines neutralen Gesamtdeutschlands westlich von Oder und Neiße vorgeschlagen. Der Bundeskanzler wandte sich sofort dagegen. In seiner national motivierten Kritik traf sich Dehler mit dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein, seit den 1950er Jahren FDP-Mitglied. Nach der Schließung der DDR-Grenze 1961 sahen sich beide bestätigt.Seit 1962 trat der FDP-Funktionär Wolfgang Schollwer mit Plänen zu einer Annäherung der beiden deutschen Staaten hervor – Ostpolitik war damals in erster Linie Deutschlandpolitik, die aber ohne Berücksichtigung der Beziehungen zur Sowjetunion nicht zu haben war. Größere Prominenz erreichten 1963 die Überlegungen zu „Wandel durch Annäherung“ des Sozialdemokraten Egon Bahr.Fundsache AußenpolitikMit dem Eintritt der SPD in eine Große Koalition 1966 begannen zwar erste Schritte hin zu einer neuen Ostpolitik, zugleich wurden sie aber von der CSU und vom rechten Flügel der CDU gehemmt: Die Sozialdemokraten konnten nicht so, wie sie wollten. Dies wurde die Chance der oppositionellen FDP, in der 1967 Schollwer noch einmal mit einem nach ihm benannten Plan hervortrat. Die Freien Demokraten kokettierten als „Anerkennungspartei“ – als die Kraft, die konsequenter als Brandt für ein Arrangement mit der DDR eintrat. Rückhalt fanden sie in der Industrie: Sie war an Märkten in den sozialistischen Ländern interessiert. Die SPD, die sich nach der Bundestagswahl 1969 aus der Großen Koalition lösen wollte, fand in der ostpolitischen Gemeinsamkeit mit der FDP den zentralen Hebel zu einer solchen Wende. Für Walter Scheel, deren Vorsitzenden, nunmehr auch Außenminister, war die Ostpolitik – anders als etwa für Herbert Wehner – keine Herzens-, sondern eine Art Fundsache, die er dazu nutzte, seine Partei im Spiel zu halten.Das war allerdings riskant. Wegen der Verträge von Moskau und Warschau, in denen die Beziehungen zur Sowjetunion und zu Polen neu geregelt wurden, verlor die FDP Mitglieder und Abgeordnete an die Union, die Ratifizierung im Bundestag drohte zu scheitern. Im Oktober 1970 reiste der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko an, um die Freien Demokraten und die neue Ostpolitik zu retten. In Hessen standen Landtagswahlen bevor, die FDP drohte an der Fünfprozenthürde zu scheitern. Dies wäre ein Menetekel für die Koalition in Bonn gewesen. Gromyko spielte mit Scheel in Kronberg im Taunus Golf und sagte ihm am 14. Loch Zugeständnisse in Verhandlungen über Berlin zu. Das Signal wirkte: SPD-Wähler gaben der FDP Leihstimmen, schwächten ihre eigene Partei, hielten die Liberalen im Landtag und halfen zugleich ihrem Kanzler Brandt.Mit der Ratifizierung der Verträge mit der Sowjetunion, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR 1972/1973 war diese dramatische Zeit vorbei. Scheel war kein Architekt der neuen Ostpolitik gewesen, aber ihr Repräsentant. Genscher, seit 1974 sein Nachfolger als Außenminister, hat sie verwaltet. Bahr ließ nie einen Zweifel daran, dass sein „Wandel durch Annäherung“ irgendwann die DDR zu Fall bringen sollte. Brandt sah das ebenso. Im Bundestag verteidigte er die Ostverträge als Fortsetzung der Politik Adenauers mit anderen Mitteln.Als Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre die Sowjetunion schwächelte, war Genscher, nunmehr in der Koalition mit CDU und CSU, bereit und geeignet, um die Ernte einzufahren. Auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft 1989 in Prag kam ihm – ebenso wie einst Scheel und anders als Kohl – eher eine Darsteller- als eine konzeptionelle Bedeutung zu. Ein aktiver Ostpolitiker war er allerdings bei der Zerschlagung Jugoslawiens durch die schnelle Anerkennung von Kroatien und Slowenien.Fischen im UnbehagenLindners Vorschläge in der Russland-Politik stehen in einem völlig anderen Kontext als einst die Politik von Dehler, Schollwer, Scheel und Genscher. Eine dünne Übereinstimmung gibt es immerhin auf wahltaktischem und wirtschaftspolitischem Gebiet. Die FDP schickt sich an, in der Mitte ein Thema zu besetzen, das CDU/CSU und SPD rechts der AfD und auf der anderen Seite des Spektrums der Linkspartei überlassen haben. Es besteht ein populäres Unbehagen am Kurs der Koalition gegenüber Russland. Hier lassen sich Stimmen holen.Eine weitere Parallele ist der Gleichklang mit den Interessen der Exportindustrie. 2014 grummelte es in den Moskauer Residenturen deutscher Firmen, als ihnen die Sanktionen zugemutet werden sollten. Den Botschafter sah man dort als einen geschäftsschädigenden Scharfmacher. Besonders widerspenstig war Siemens und bedurfte einer gesonderten Ansprache der Kanzlerin. Schließlich fügte man sich dem Primat der Politik, findet aber wohl unverändert, eine andere Politik wäre vorzuziehen. Um Industriespenden wird sich die FDP diesmal noch weniger Sorgen machen müssen als sonst.Nun zu den Unterschieden. Es gab eine alte und es gibt nun eine neue Deutsche Frage. Früher ging es um die Wiedervereinigung und ihre Einbettung in eine allgemeinere Ostpolitik. Das ist vorbei: Die Sowjetunion und die DDR sind weg. Die zweite Deutsche Frage hat wenig mit dem Osten, viel aber mit dem Westen zu tun. Die Bundesrepublik ist eine in Europa dominierende Macht, die den Süden niederhält und in Konkurrenz zu anderen Industrieländern steht, besonders den Vereinigten Staaten von Amerika. Die von diesen 2014 forcierte und 2017 noch einmal bekräftigte Sanktionspolitik kann nicht im wirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegen, sie widerspricht sogar dessen geheimer ökonomischer Staatsräson: ständige Exportüberschüsse.Wenn Gerhard Schröder einen Vorstandsposten bei dem Konzern Rosneft antreten will, nimmt er aus eigener Sicht nicht nur private Interessen wahr, sondern auch die der deutschen Industrie an einer Stelle, wo diese mit denen Russlands übereinstimmen. Dies scheint ihm wichtiger als der SPD-Wahlkampf. Interessanter ist das Verhältnis von eurasischer und atlantischer Orientierung der Bundesrepublik – die eine von Putin angestrebt, die andere von Merkel bevorzugt. Derlei geht jedoch weit über Christian Lindners Parteitaktik hinaus. Kaum vorstellbar ist, dass er – wäre er erst einmal Außenminister – Merkel zu einem Kurswechsel veranlasst. Sie hat schon manche Wende vollzogen, diese aber ist ihr nicht zuzutrauen. Lindner wird nicht an einem Rad drehen wollen, das viel zu groß für ihn und seine kleine FDP ist. Ihm reichen die Vorteile für den Wahlkampf.