Die Schweiz ist eine Insel aus Bergen. Sie ist ein kleines Land wie Dänemark oder die Niederlande. Aber die inneren Abstände in diesen drei kleinen Ländern sind groß, und groß ist auch der Abstand nach draußen. Denn die Öffentlichkeit der kleinen Länder ist zu den Nachbarn hin offen, diesen aber entweder unzugänglich - wegen ihrer Sprache - oder unbekannt. Die Schweiz liegt daher in großer Ferne. Amsterdam oder Kopenhagen gelten außerdem als lebendig. Wer sagt das schon von Zürich?
Wer in einer Zeitungsstadt wie Amsterdam oder Kopenhagen eine Zeitung macht, der hat Leser im ganzen Land. In Paris oder Berlin ist das anders. Deshalb sieht die Selbstbezüglichkeit der Hauptstädte, von den kleinen Ländern her gesehen, zie
sehen, ziemlich provinziell aus. Das gilt auch für die Schweiz. Auch für Zürich, die Zeitungsstadt der Schweiz.In Zürich erscheint die WoZ, sprich Wochenzeitung. Die WoZ ist das, was die Taz so nie wurde. Ein wöchentliches Ereignis, könnte man sagen, eine nur manchmal ermüdende Gewohnheit. Oder mit ihren eigenen, nur leicht abgewandelten Worten:»Sie ist eine Ikone. Sie ist müde. Sie ist rechts. (Anm.: auch Autonome lesen die WoZ.) Sie ist unfassbar. Das Volk liebt sie. (Sagt Familie Monster.) Sie ist links-traditionalistisch. Sie ist unberechenbar. Sie hat männliche Power. Sie ist feministisch. Sie ist unermüdlich. Sie lässt hoffen. (Sagt Al Imfeld.) Sie macht Kompromisse. Sie ist böse. Sie ist rebellisch. Sie ist jenseits von Gut und Böse. (Sagt Christiane Brunner.) Sie ist out. Sie ist in. Was aber ist sie wirklich?« (WoZ vom 12.10.2000)Und schon haben wir den Salat. Denn wer ist Christiane Brunner (um die geht es hier eigentlich)? Wer Al Imfeld? Wer spielt die Familie Monster? Alles Schweizer. Schwer vermittelbar für bequeme Leser(innen). Also: die neue Präsidentin der Schweizer Sozialisten heißt Christiane Brunner. Ein kochender Mönch mit Afrikaerfahrung heißt Al Imfeld. Ein Deutscher (?) mit multipler Persönlichkeit tarnt sich als Familie Monster. Und bereichert die WoZ um etwas, das nur als das journalistische Grauen schlechthin zu fassen ist.Aus der WoZ-Monster-Kolumne von Constantin Seibt, die der Taz auch den letzten Rest ihrer politisch korrekten Leser (und die Einladung zum Bundespresseball) kosten würde, hier eine harmlose, gleichsam durchschweizerte Kostprobe: »Appetit! Das fühlte der Pharao Ka's Bar plötzlich, zufrieden, dass ihm die Güter der Welt nicht verleidet waren nach langen Jahren des wilden Genusses: [...] Und wachte hungrig auf, Jahrtausende später, elend, als Mitglied einer kleinen Regierung in einem kleinen Land, das soeben den Banken eine halbe Milliarde Franken an Stempelsteuern geschenkt, weiche Drogen legalisiert und seine Kernkraftwerke unbeschränkt verlängert hatte, während tief unten die Schreie des Eselmarktes von rohem Leben kündeten.«Das rohe Leben. Die Schweiz. Alles weit weg, das eine wie das andere. Weit weg, in einem Raum der Ungleichzeitigkeit befindet sich auch die Schweizer Linke. Ihre Debatten spiegeln viel mehr von dem, was draußen vorgeht, als das in Deutschland oder Frankreich der Fall ist. Oder in Italien. Manches überlebt, ob im Gewerkschafts- oder im alternativen Milieu, das anderswo schon abgestorben ist. Und jede(r) kennt hier jede(n). Das erzeugt eine Spannung, die auch in Lähmung münden kann.In der deutschsprachigen Schweiz kommt das ungemütliche Gefühl hinzu, dass authentisch Linkes eher in der französischsprachigen Romandie zu finden ist. In Genf zum Beispiel. Auch deshalb ist die neue SP-Präsidentin ein Streitfall, der sich in Deutschland oder Frankreich nicht ereignen kann. Sie spricht zwei Sprachen. In der Schweiz ist das nicht die Regel, aber der eigentlich landesübliche Gemütszustand. Auch das ist ein Grund, die WoZ zu lesen und Schweizerfahrung zu sammeln, denn diese Zweisprachigkeit, das Bewusstsein globaler Ungemütlichkeit und nicht die Einsprachigkeit der Hauptstädte haben Zukunft.Die WoZ ist eine linke Zeitung mit distanziertem Blick auch auf die Themen, bei denen ihre Leser empfindlich werden. Zwar liegt ihr einmal im Monat die deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique bei, aber das heißt nicht, dass deren Stil rigider Kontrolle von Inhalten und Sprache auf die WoZ abfärben würde. Lesbar soll sie sein, das aber lässt eine beträchtliche Vielfalt des Ausdrucks zu. Der gemeinsame Nenner ist immer erkennbar, doch bleibt die Individualität der Autoren stärker gewahrt. Paolo Fusi ist eine solche unverwechselbare Stimme, die in einem Bericht zum Schweizer Profifußball wieder einmal vernehmbar war: ein Wirtschaftsbericht vom Feinsten, unbekümmert und informiert. Auf der Schweiz-Seite drei (WoZ 28.9.2000), ganz vorn.Ihrer Rolle im Land, die sich die WoZ in neunzehn Jahren erworben hat, ist es geschuldet, wenn der erste Bund des Blattes dem Inland gewidmet ist - dennoch hat der Aufmacher sehr oft ein Auslandsthema. Der zweite Bund enthält die Auslandsberichte und die Meinungsseite. Hier spiegelt sich die Position des »kleinen« Landes, gerade dann, wenn vom deutschen Ausland die Rede ist, das für deutsche Leser(innen) damit in die Ferne einer leisen Verfremdung rückt. Es folgt der dritte Bund, die Kultur, und ein vierter Bund mit Schweizer Kulturterminen (»Szene«) und der letzten Seite: dort gibt es den Cartoon, von Martial Leiter. Ein Hauch von Le Monde, der manchmal ganz allein die anderen 31 Seiten aufwiegt.Auf der letzten Seite, in der Spalte »woz news / good news«, lesen auch die Kollegen manchmal ein feines Lob: die von der Neuen Zürcher Zeitung, der doch einzigen europäischen Tageszeitung in deutscher Sprache, von der Weltwoche, der etwas herzkranken Wochenzeitung für vermögendere Leser, oder vom Tagesanzeiger, der der ZEIT ihren de Weck beschert hat. (Zum Tagesanzeiger wechselt, wer sich mit dem Solidaritätslohn der WoZ eine Familiengründung oder den Gang zum besseren Autohändler nicht zutraut.) Ein Beispiel:»Hinter den faszinierenden Möglichkeiten einer Tageszeitung, den Spuren eines aktuellen Ereignisses nicht nur hautnah folgen, sondern es fast schon vorauseilend erahnen zu können, wird der vergleichsweise träge Rhythmus einer Wochenzeitung immer zurückbleiben. So blicken wir diesmal bewundernd zur Neuen Zürcher Zeitung, der es gelang, sogar den Tourismusbund (dt.: den Reiseteil) augenblicklichem Geschehen zu widmen: Einen Tag nach dem Fährunglück in der Ägäis erschien dort unter dem Bild der griechischen Flagge, heckwärts über schäumendem Kielwasser flatternd, ein Artikel über Fähren im ägäischen Meer. Titel: Die vollkommene Art zu reisen.« (WoZ 5.10.2000)Links ist die WoZ, aber sie ist auch schweizerisch genug, um sich Humor zu leisten. Oder sie hat Humor genug, um sich gelegentlich auf einen Ernst zu versteifen, der nur in kleineren Dosen verträglich ist (wie z.B. die WoZ vom 21.9.2000, mit seitenlangen Wirtschaftsberichten, in denen die NZZ gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt wird - was auch seinen Charme hat, aber doch etwas ermüdet).Wie schön, wenn in Deutschland eine linke Zeitung eine Reichweite hätte, wie sie nur in kleinen Ländern denkbar ist. Die WoZ findet sieben Leser pro verkaufter Ausgabe, 107.000 pro Woche laut der letzten Marktanalyse. Und sie schreibt - dank der Spenden ihrer Leser und der genossenschaftlichen Organisation der Mitarbeiter - auch keine roten Zahlen.Die WoZ ist mit anderen Worten die Zeitung, mit der sich der Freitag gerne vergleichen ließe. Nur liest die WoZ außerhalb der Schweiz kaum eine(r), und so bleiben Freitag und WoZ, was sie sind. Unvergleichlich eben. Schon weil die WoZ in der Schweiz ganz entschieden ein bewegender Faktor ist. Und so bleibt uns nur die Empfehlung, diese Woche eine WoZ zu lesen (www.woz.ch), die es noch nie gab, nämlich die Nr. 1000. Geschrieben von 44 Schweizer Gastautor(inn)en, die auch deutsche Leser(innen) einmal kennenlernen sollten.Nur ein kleiner Teil dieser Namen war im Freitag schon einmal zu lesen. Die Schweiz ist eben weit weg. Fast unerreichbar. So ähnlich wie die WoZ.
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