Zwei Bilder hängen da, als hätten sie einen Namen. Das eine, sagen wir, heißt Käthe; das andere Paula. Einmal eine Mutter, sichtlich angehärmt, ein Kleinkind im Arm, Bleistift, das Kind ist in ein Tuch gebettet, hält die Augen geschlossen, die Mutter schaut es an, das Thema ist klar. Armut. Und wieder eine Mutter, wieder ein Kind, aber alles ist anders. Der Blick der Mutter fällt in eine Leere, die sich zu Füßen der Betrachterin, des Betrachters öffnet. Auch hier hält das Kleinkind seine Augen zu, aber mit Lust, denn die Mutter gibt ihm die Brust. Die Mutter schaut das Kind nicht an, denn es geschieht etwas zwischen den Beiden, an dem niemand anderes teilnimmt.
Bei Käthe Kollwitz gibt es dies auch: zwei Lebewesen, die einander fühlen, ein Paar zum Beispiel, rötlich-dunkler Gips, Kopf an Kopf, Arm um Arm verwinkelt, wie bei der Pietà, nur umgekehrt: der Mann und das Mädchen, nicht die übergroße Mutter und der mager heimgekehrte Sohn. Von dieser Ähnlichkeit bleibt der Blick nicht mehr frei, Liebe und Tod sind ja verwandt, heißt es, vielleicht in der Leere, in einer Unerfülltheit, die eigentlich das Thema vieler Käthe-Bilder ist. Warum aber tritt dies hier hervor, im "Blickwechsel" mit den Bildern der Paula Modersohn-Becker? Deren Bilder halten das Auge von sich ab, aber diese Art verstehenden Distanzgefühls lassen sie nie aufkommen; vielleicht deshalb?
Alle Bilder von Käthe Kollwitz sind Studien, die eine plastische Form ermitteln, anders Paula Modersohn-Becker, bei der die Zeichnung manchmal eine plastische Dimension erfasst, im ausgeführten Gemälde aber mit der Farbe überwindet. Eine Verallgemeinerung, daher womöglich falsch. Schauen wir eine Zeichnung an, Kohle, nur Umriss, das Problem ist die Form, aber hier geht es um die Nähe, die im Bild entsteht, wieder Mutter und Kind, sie liegt, halb auf der Seite, die Beine angewinkelt, es schmiegt sich an Schoß und Bauch, ein Arm fasst es am Rücken, vielleicht sind seine Augen auf, vielleicht ihre geschlossen. Beide fühlen einander, wenn es eine Leere gibt, dann ringsum, im Bildraum, der auch Betrachterin oder Betrachter einschließt, als Teil dieser Leere.
Noch ein Vergleich, eine Katalogseite, links Käthe, rechts Paula, Lehrlingsarbeiten, ein halber Rückenakt, weiblich, Gesicht nach rechts, Frisur von 1901, rechts wieder ein Rückenakt, ein junger Mann, Hände am Gesäß verschränkt, Hals daher etwas nach vorn gebeugt, vor dunkler Fläche, über die der Oberkörper hinausragt, Blick unsichtbar ins Freie des leeren Papiers. "Es ist schade, dass die feurigen Mädchen nicht von den schönen Jünglingen schreiben dürfen, wie sie wohl könnten, wenn es erlaubt wäre." Lichtenberg hätte statt schreiben auch zeichnen sagen können. Käthe Kollwitz hätte er dann immer noch nichts gesagt, Paula Modersohn-Becker schon.
Wer mit Frauen vor diesen Bildern steht, der macht die Erfahrung, dass die Beziehung zu Käthe Kollwitz keiner schwer fällt. Diese Frauenbilder sind vertraut, es ist der Blick, den Frauen erwarten, ihr Engagement ist leicht zu teilen, über die Frau aber verraten diese Bilder nichts. Bei Paula Becker ist das anders. Wenige ihrer Bilder passen sich Erwartungen an, die auch Frauen zu teilen gewohnt sind. Ihr geht es offenbar darum, den eigenen Blick im Gesehenen zu sichern, ihre Bilder folgen nicht den Konventionen des männlichen Blicks, daher fallen sie aus jedem Rahmen, auch aus dem jedes Engagements, das sich mit dem Denkmodell eines "weiblichen Blicks" verbindet.
Was die Betrachter an Paula Modersohn-Beckers immer schon irritiert hat, sind malerische oder künstlerische Tabuverletzungen beim Machen ihrer Bilder. Auch die Betrachterinnen können sich auf diese Art der Ablehnung zurückziehen, aber es gibt da noch ein anderes Problem. Diese Bilder geben etwas preis, das Frauen sonst für sich behalten. Zeigen sie Frauen oder Kinder, dann fehlt jeder Hauch von Anmutung. Die Dargestellten sind ganz für sich da, das gilt auch für die Selbstporträts, auch wenn da ganz deutlich wird, dass die Enttäuschung des Betrachters - aber eben gleich auch der Betrachterin - ganz offensichtlich Absicht ist. Das verletzt, denn es stellt ein Rollenbild in Frage, dessen Ausfüllung doch immerhin eine große Anstrengung verlangt.
Das Bremer Paula Modersohn-Becker Museum kann seine Eigenständigkeit mit dieser unerledigten Provokation begründen, die mit den Bildern Paula Beckers auch nach bald hundert Jahren verbunden ist. Sie fallen aus dem Gänsemarsch der Kunstgeschichte heraus, in den die Bilder von Käthe Kollwitz sich tapfer einreihen lassen - das wäre auch ein Fazit der Ausstellung, die in diesem Sinne auf die Sprünge half, der Titel war Blickwechsel: Zwei Künstlerinnen zu Beginn der Moderne. Das mit der Moderne ist eher eine falsche Fährte, aber sei's drum, das bleibende Ergebnis ist ein Buch, das für den Schreiber das beste Kunstbuch des Jahres ist.
Ein Buch ist natürlich nicht zu vergleichen mit Räumen, in denen Bilder unvermutete Mesalliancen eingehen dürfen, die beim Blättern nicht zustandekommen. Und natürlich kommen in einem Raum, der gleich auch Menschen enthält, nicht nur Bilder, auch Blickwechsel zustande, die nicht geplant sind und die Bilder neidisch machen können. Trotzdem schafft dieser vorbildlich gestaltete Katalog es aber, das Programm dieses ebenso kleinen wie notwendigen Museums in eigener Form umzusetzen: jede Ausstellung kreist hier um den eigenen Bestand, und jede soll zu einem Gewinn an Einsicht führen. In diesem Jahr ist dies jedes Mal gelungen. Wenn die Bremer das begreifen, wird das kleine Haus seine Selbständigkeit behalten. Klar ist das leider nicht.
Blickwechsel: Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker - Zwei Künstlerinnen zu Beginn der Moderne. Katalog der Ausstellung im Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen (bis 24.9.2000). 160 S., reich bebildert, 39,00 DM.
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