Avignon ist die ideale Festivalstadt. Die Sonne scheint fest abonniert und ist eine Voraussetzung dafür, dass die mittelalterliche Stadt in der Provence selbst zur Bühnenlandschaft wird: Höfe in Klöstern, Schulen und Palästen verwandeln sich in Spielorte. So gleicht Avignon dieser Tage wieder einem Volksfest: Das Karussell auf der Place de l´Horloge dreht sich tout en rond, an jeder Ecke stehen Infoblattverteiler, Touristengruppen schieben sich Richtung Papstpalast. Zwischen Straßencafés zeigen Truppen Ausschnitte aus ihrem Programm.
In diesem 61. Festivaljahr ist das Glück besonders komplett. Endlich, jubelt die lokale Presse, wurde ein Franzose zum kuratierenden Künstler berufen! Nach Thomas Ostermeier, Jan Fabre und Josef Nadj ist 2007 Frédéric Fisbach für die Auswahl der Produktionen mitverantwortlich. Für die Eröffnungspremiere im Ehrenhof des Papstpalastes hatte er das jüngste Werk des Malers und Dichters Valère Novarina ausgewählt.
Wie stets bei Novarina gibt es in seinem von ihm selbst uraufgeführten Unbekannten Akt Wortkaskaden, Neologismen und nicht den Hauch einer Handlung. Akkordeonspieler bevölkern die Bühne, zwölf Schauspieler übernehmen die unzähligen Rollen, zelebrieren den Text und arbeiten lustvoll daran, Erwartungen der Zuschauer zu hintergehen. In einem der witzigeren Momente treten alle zwölf hintereinander an ein Rednerpult, um hohle Phrasen von sich zu geben. Der Erlöser nicht nur in dieser Szene ist ein Bühnenarbeiter, der das Pult abreißt, auch sonst lautlos für den reibungslosen Ablauf sorgt und schließlich die letzten Worte spricht: "Verzeih, Herr, dass die Schauspieler nicht gespielt haben."
Novarinas Texte sind eine Zumutung, phonetisch-poetische Wort-Spiele ohne Aussage, ohne konkrete Botschaft und kaum zu übersetzen. Es zeugt von Mut, seinen ausufernden Unbekannten Akt für den 2.000 Plätze fassenden Palasthof auszuwählen. Die Vorstellungen sind dennoch ausverkauft. Nach der ersten von dreieinhalb Stunden des Eröffnungsabends beginnt der Auszug des Publikums.
Dass Novarinas Texten Kürze besser steht als epische Breite, zeigt Ajour, ein Kapitel aus seinem Werk Körperlichter. Christine Dormoy inszeniert diese Öffnung zum Tageslicht in einem Kellerraum der Kartause von Villeneuve-lez-Avignon als atmosphärisches Klangtheater mit vier Schauspielern, die aus dem Dunkel mal ironisch, mal weihevoll den Text zelebrieren, mehrstimmig singen oder klassischen Instrumenten ungewohnt schräge Klänge entlocken.
Eine ähnliche Publikumsabwanderung wie Novarina verursacht Frank Castorfs Nord nach Louis-Ferdinand Célines gleichnamigem Roman. Der Kollaborateur und Antisemit hat darin seine durch Auslassungspunkte und Ausrufungszeichen rhythmisierten, scheinbar ungefilterten Erlebnisse im untergehenden Dritten Reich ausgekotzt. Mit Rollenwechseln, grauverrieselten Videoübertragungen, Gewehrgeballer und Brüllen, Rennen, Ringen bis zur Erschöpfung auf beiden Seiten der Rampe bietet Castorf, was man von ihm erwartet. Seine wunderbare Truppe, darunter Annekathrin Bürger, Marc Hosemann, Milan Peschel, Silvia Rieger, Bernd Schütz und Matthias Schweighöfer, werfen sich die Rollen und Worte slapstickartig zu. So ruft der jeweilige Céline-Darsteller immerfort: "Ich hab solche Probleme!", und die alte von Dopf fordert in den unmöglichsten Situationen die Rückgabe ihres Fächers. Drei Musiker geben den schwungvollen Takt vor zu dieser Totentanzrevue, die ab Herbst in Berlin zu sehen sein wird.
Einen Totentanz anderer Art zeigt eine ältere Arbeit vom kuratierenden Künstler. Fisbach inszenierte 2002 Jean Genets episches Gedicht Die Wände, das dieser vor dem Hintergrund des Algerienkrieges schrieb. Drei Schauspieler übernehmen in Fisbachs Inszenierung die Hauptfiguren, sechs japanische Marionettenspieler mit ihren Puppen die weiteren 93 Rollen, zwei Schauspieler mit Mikroports deren Stimmen. Fisbachs Mittel sind schlicht, aber überzeugend: Einige rote Papierblätter werden an einen Paravent geheftet, schon brennt die Plantage. Eine Puppe wird in jenem Moment zu einem Geist, als der Verfolgerscheinwerfer auf sie trifft. Je länger das Mysterienspiel um die drei Algerier dauert und je länger und öfter es im Jenseits spielt, desto stärker demontiert Fisbach jegliche theatrale Illusion. Spieler reißen Puppen die Köpfe ab, die Wände verlieren alles Kulissenhafte und verschwinden schließlich ganz. Am Ende hängen die Puppen an den Haken, stehen die Schauspieler in Zivil auf der Bühne, werden den Sprechern die Skripte weggenommen. Das Totenreich der letzten Szenen ist hier das Ende des Theaters.
Afrika ist das Thema des Schauspielers, Schriftstellers und Regisseurs Dieudonné Niangouna aus Brazzaville im Kongo. In seinem Ein-Mann-Stück Attitude clando steht er inmitten eines glühenden Holzkohlekreises und nimmt das Publikum mit auf eine Reise durch das Leben seines Helden, der ständig an soziale, nationale und ethnische Grenzen stößt, und der vehement seine individuelle Freiheit einfordert. Niangouna erzählt in Anekdoten, oft berührend, oft witzig und unmittelbar, scheinbar authentisch durch eine einfache, mit Slang gemischte Sprache.
Ganz im Gegensatz dazu steht Julie Brochens Inszenierung von Paul Claudels frühem Drama Der Tausch. Vor einem überflüssig realistischen Bühnenbild aus an der Leine hängenden Teppichen und Gardinen zelebriert sie als Hauptfigur Marthe vor allem den rhythmisch-vollen Klang von Claudels treibender Sprache. Bis zum Rap treiben sie, drei weitere Schauspieler und ihr Musiker Frédéric Le Junter dieses Spiel, ohne dem Text mehr als eine ästhetische Seite und unerträgliches Pathos zu entlocken. Claudels etwas unreflektierte Kritik an Amerika und Kapitalismus wird von ihr ignoriert.
Bei derart sinnfreiem Ästhetizismus erscheint das lebendige Off-Theatertreiben zur Festivalzeit wie eine Rettung des Theaters. Etwa 300 dieser Aufführungen täglich gibt es während der drei Festivalwochen. Vielgesichtig ist dieses Theater und reicht von Penismonologen über Tiermusicals bis zu Racine. Ein Klassiker ist auch Alfred Jarrys König Ubu, den Alain Timar im Théâtre des Halles zeigt. Das kleine Haus wird von der Stadt gefördert und im Gegensatz zu den meisten anderen Off-Spielstätten ganzjährig bespielt.
Timar braucht für seine Inszenierung nur eine weiße Spielfläche, eine große Rolle Papier und sechs Schauspieler in einfarbigen Trikots. Wie bei Castorf wechseln sie die Charaktere, deuten durch einen Umhang oder einen Bauch aus Papier diesen Wechsel an, spielen darüber hinaus virtuos mit ihren Körpern und Stimmen: Mutter Ubu geht immer eingeknickt und auf Zehenspitzen, als traute sie dem Frieden nicht, und Ubu selbst befindet sich im Ausfallschritt auf der Flucht. Klar im Stil, aberwitzig in den Stimm- und Körperverwandlungen beeindruckt dieser Abend mehr als manche Inszenierung aus dem offiziellen Programm.
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