Stars sind selten pünktlich. Eine gute Stunde muss sich das Publikum im Haus der Berliner Festspiele gedulden, dann sitzt sie trotz Knieverletzung auf der Bühne: Isabelle Huppert, im engen blauen Kleid, mit einer Frisur, die sich schräg zum Himmel reckt. Ihr linker Arm ist gerade nach hinten gestreckt, der rechte exakt gewinkelt - eine kunstvolle Arabeske im Traumtheater Robert Wilsons.
Die symbolistische Bildersprache mit ihrer kafkaesken Stummfilmästhetik, die Wilson berühmt machte und die er seit Jahrzehnten variiert, wurde oft als kunstgewerblich und plakativ kritisiert. Zuweilen zu recht. Hier aber steht ihr mit Heiner Müller ein Partner zur Seite, der eine Gegensprache zu seinem poetisch-sperrigen Quartett-Text forderte und sie in Wilsons Trennung der Ele
Trennung der Elemente fand. 1992 schrieb er über den befreundeten Regisseur: "Er ist zunächst bildender Künstler, mit dem schrägen Blick, die Kraft kommt nicht aus der Zentralperspektive, eher aus der versetzten Kausalität. Was ein Text sagt, darf ein Schauspieler nicht bedienen."Müller nutzte den Briefroman Gefährliche Liebschaften des Franzosen Choderlos de Laclos über die Dekadenz des untergehenden Adels als Vorlage. Er reduzierte die ausufernde Handlung auf einen dekadenten Geschlechterkampf zwischen Valmont und der Marquise Merteuil. Kalt sind die Mechanismen von Macht und Gewalt herausgearbeitet, umkreisen sich die Protagonisten wie bissige Raubtiere. Valmont und Merteuil liefern sich wortreiche Scheingefechte, schlüpfen in weitere Rollen, um in ihnen weite zu kämpfen. Alles ist ein Spiel. Allein Valmonts Tod scheint real zu sein.Diese Quartett-Inszenierung, die nun auf Einladung von Spielzeit Europa an zwei Abenden in Berlin zu sehen war, ist bereits die zweite des Amerikaners. Sein "Salon vor der Französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg" (Regieanweisung) ist wie die Protagonisten in ihren Kampfsituationen im ständigen Wechsel begriffen: Wenige Stühle, ein Podest, eine kubistische Chaiselonge und ein Gazevorhang fügen sich zu immer neuen Bildern. "Wir sollten unsern Part von Tigern spielen lassen", bemerkt Valmont; es kreischt und faucht dementsprechend im Urwald der Triebe.Wie unabänderliche Wetterfronten wechselt die Stimmung abrupt, ändern sich Licht, Musik, Tonfall der Schauspieler. Starke Bilder entstehen: Plastische, einfarbig bestrahlte Figuren werden zu Schattenrissen, ein junges Paar variiert tänzerisch den Geschlechterkampf, ein Greis schreit auf, als wäre das alles sein Alptraum. "Spielen wir weiter?", fragt Valmont. Ariel Garcia Valdès darf sich als diabolischer Verführer oder als dröhnender Entertainer in Pose werfen, aber auch die verschämte Präsidentin Tourvel säuseln. Die über ein Mikroport eingefangene Stimme wird dabei mal glockenhell, mal dröhnend verzerrt. Wenn die Merteuil mit dem Zeigefinger zuckt, bricht er in sich zusammen. Isabelle Huppert brilliert als die alles dominierende, überlegene Fädenzieherin, die schließlich ihr einziges Spielzeug zerstört. Sie ächzt und schreit, stimmt den Tragödienton an oder spricht im unbeteiligten Staccato. Im Anfang und Ende gleicht sie einer defekten Schallplatte, gefangen in ihrer geschlossenen Gesellschaft, in der sie ohne das einzige Gegenüber weiterexistieren muss. Ein Alptraum.Traumtheater anderer Art ist das des Kanadiers Robert Lepage. Wenn er als Autor, Regisseur und Darsteller in Personalunion seinen Zauberstab schwingt, beginnt das große Staunen. So auch bei The Andersen Project, das 2005 als Auftragsarbeit Dänemarks zum 200. Geburtstag des Dichters entstand und nun ebenfalls im Rahmen von Spielzeit Europa präsentiert wurde.Lepage erzählt eine Geschichte von Verlierern: Der Kanadier Fred soll in Paris ein Andersen-Libretto verfassen. Er nutzt die Wohnung eines Freundes, hat aber dafür Ärger mit dessen Drogendealer und einem sich vermehrenden Hund. Zudem kämpft er mit unsäglichen Arbeitsbedingungen und der Arroganz des Operndirektors. Dessen Privatleben zerbricht, weil er seine Sucht nach Pornographie nicht in den Griff bekommt, derweil seine Frau sich mit dem besten Freund absetzt. Auch der Märchendichter Andersen hat seinen Auftritt als Neurotiker mit unerfüllten Begehren. Von seiner unterdrückten Homosexualität jedoch wollen die dänischen Koproduzenten der Oper nichts wissen. Tragische Größe besitzt allein die Dryade aus Andersens gleichnamigen Märchen, eine Schwester der kleinen Meerjungfrau, die sich nichts wünscht, als einen Tag lang in Paris ein Mensch zu sein, und die am Ende dieses Tages sterben muss.Robert Lepage spielt alle Rollen seiner weisen Tragikomödie selbst, unterstützt von zahlreichen Assistenten hinter der Bühne und einer perfekten, unglaublich geschickt genutzten Technik: Lautlos schieben sich Kulissensegmente auf die Bühne, fährt die dreidimensionale Leinwand nach vorn, die es Lepage erlaubt, in phantastisch-realistische Videoprojektionen zu treten. So steht er in einer Szene auf der ausladenden Treppe der Pariser Oper, und während sich die Perspektive des Bildes dreht, beginnt er, mit hallenden Schritten die Stufen hinaufzugehen.Wie Wilson arbeitet Lepage mit Toneffekten, einer eindrücklichen Lichtregie und überwältigender Musik. Sein eigentlicher Trumpf aber sind seine genaue Beobachtungsgabe und seine Schauspielkunst. Wie es ihm gelingt, mit fünf Gläsern und sich selbst als Librettisten eine Sitzung zu evozieren, weil sich die Reaktionen der anderen in seiner Mimik und seinen zunehmend fahrigen Gesten widerspiegeln, wie er sich in Sekundenschnelle von Andersen in den Operndirektor verwandelt, wie allein von seiner Körperlichkeit, seinem Blick eine unglaubliche Melancholie ausgeht, ist großes Theater. Zaubertheater.