Kommt ein Paar mit Kinderwunsch und abgelaufener biologischer Uhr zum Arzt. Kein Problem für den Frankenstein im weißen Kittel - solange das saftige Honorar gezahlt wird. Sachlich stellt er seinen Kunden die virtuelle Design-Suite vor, in der alles möglich ist: Die Nase des Vaters? Oder die der Mutter? Das Modell Paris, "beeindruckend und doch subtil modelliert"? Oder, gegen einen Aufpreis, die Nase der Tennislegende Anna Kurnikowa, die sich ohne größeren Aufwand auch mit männlichen Chromosomen synthetisieren lässt?
Mit diesem Problem sieht sich Mr. Brain am Anfang der grotesken Farce Natürliche Auslese von Paul Jenkins konfrontiert, die nun in München uraufgeführt wurde. Überwältigt wie vom Überangebot im Supermarkt, ist es für Brain unmöglich, sich für den Kauf eines Produkts zu entschließen. Seine Therapeutin diagnostiziert Entscheidungsschwäche, die Lebensgefährtin trimmt ihn auf Führungsetage: "Höchste Zeit, dass ich für meine Investitionen etwas zurückbekomme." Als es dank überzeugend einstudierter Ellenbogenmentalität mit dem Job klappt, ist es Zeit fürs Designerbaby, das nicht nur eine Katalognase, sondern gleich eine genetische Generalüberholung erhält.
Neben der Humangenetik, auf die der Titel anspielt, überfrachtet Jenkins sein Stück mit vielerlei Themen, die gerade auf dem westlichen Meinungsmarkt Konjunktur haben: Globalisierung, Leihmutterschaft, Terrorismus, Geschlechterkampf, Alltagsrassismus. Im walisischen Kohlerevier findet der tumbe Joseph das urzeitliche Skelett "Gary" und revolutioniert damit die Anthropologie. Investoren werden aufmerksam, ein Touristenzentrum entsteht, in dem alle Wege zum Shop führen. Josephs Bruder Vlad findet das gar nicht lustig, denn er ist ein Skinhead, der Wales gegen die Globalisierung und die "zionistische Weltverschwörung" mit Bomben verteidigt. Ihre Schwester Mash hat zwar nichts dagegen, "wenn es so wie überall wird", denn "überall war es schon immer besser als hier." Dennoch erleichtert sie Männer um ihr Geld, um Vlads Kampf zu finanzieren, und trägt für Honorar ein fremdes Kind aus.
Trotz des thematischen Überangebots erweist sich Paul Jenkins als ein Komödienautor, der seine roten Fäden fest in der Hand halten und Szenen von der Alltagskomik eines Loriot oder der grotesken Übersteigerung von Monty Python erschaffen kann. Dabei geht er bis an die Schmerzgrenze und manchmal auch darüber hinaus: Wenn Mr. Brain eine streng darwinistische Evakuierungsordnung aufstellt (Alte und Gebrechliche zuletzt) und später dafür gefeiert wird, ist das noch bitterböse. Dass die von Vlad ausgelöste Katastrophe in der Vergasung internationaler Touristen besteht, die mit einer neuen Zugverbindung (Endstation: Infozentrum) herangekarrt werden und am Sicherheitscheck ihre Goldzähne abgeben müssen, ist dagegen geschmacklos.
Als gelernter Schauspieler unterfüttert Jenkins seine typisierten Figuren mit spielbaren Macken und schenkt ihnen wunderbare Pointen. Gegen Ende, als das Absurde immer stärker hervortritt, verwendet er Verfremdungseffekte wie das frontale Sprechen, reanimiert den antiken Botenbericht und webt Szenen ineinander. Das erschwert die Aufgabe für Regisseur Antoine Uitdehaag. Nachdem die Londoner Premiere verschoben werden musste und auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens lediglich eine szenische Lesung zu erleben war, avancierte die Inszenierung im Theater am Haus der Kunst, der kleinen Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels, zur Uraufführung. Uitdehaag liegen die komischen Szenen; hier hat er die treffendsten Einfälle: Er baut zusätzliche Frontalsituationen ein und löst komplexe, sich überschneidende Szenen durch Lichtgestaltung mit wenigen Requisiten.
Vor allem aber lässt er seine Schauspieler von der Leine. Stefan Hunstein als Mr. Brain ist anfangs der verdruckste Kleinbürger in braunen Kordhosen und blauen Wildlederschuhen (Kostüme: Ann Poppel), der sich von seiner Lebensgefährtin panisch durch simulierte Jobdialoge jagen lässt. Noch im Bewerbungsgespräch schwankt er zwischen Überlegenheitsgesten und nervösem Stuhlgerutsche. Im Establishment angekommen, gibt er das markige Alpha-Tier und macht die Eröffnung des Touristenzentrums zur großen Verkaufsshow. Ulrike Arnold reizt als ehrgeizige Lebensgefährtin alle Nuancen zwischen Hausfrau und Hyäne aus. In Joseph aber manifestiert sich ein Übersetzungsproblem (Michael Raab): Die walisische Sprache beziehungsweise der Dialekt, den sie im Englischen verursacht, lässt sich schlecht übertragen. Jan-Peter Kampwirth schlägt sich wacker durch eine krude Mischung aus Bayerisch, Schweizerdeutsch und S-Fehler. Stark setzt sich dagegen sein überakzentuiertes Hochdeutsch ab, als er in der Mehrheitsgesellschaft angekommen ist. Grandiose Kabinettstücke sind seine Redepersiflagen vor und während der Gary-Zentrumseröffnung.
In den "realistischen" Szenen gelingt es Uitdehaag seltener, Jenkins Text zu ent- oder widersprechen. Johannes Allmayer als Vlad und Lena Dörrie als Mash wirken dann verloren. Ein starker Kommentar hingegen ist die Bühne von Tom Schenk: In der Mitte des weißen Raumes ist ein schwarzer Hügel Kohleberg und Ausgrabungsstätte, und - geteilt in zwei surreal umhersausende Hälften - mit seinen verspiegelten Innenwänden der Shop voller ins unendliche gesteigerter Gary-Puppen.
Zum Schluss gibt es auch noch ein Komödien-Happy-End: Mr. Brain findet als Katastrophenmanager endgültig zu sich selbst, und das Kind wird statt des erwarteten Superbabys - menschliches Versagen - ein Gary-Klon. Die Eltern aber lieben es. Und Darwin ist, für diesmal, Schach matt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.