Rechnitz von Jossi Wieler

Bühne Wie ticken die Täter? Wieviel Talent zum Sadismus steckt in uns? Und wie lässt sich über das Unaussprechliche eines Massakers schreiben, Jahrzehnte ...

Wie ticken die Täter? Wieviel Talent zum Sadismus steckt in uns? Und wie lässt sich über das Unaussprechliche eines Massakers schreiben, Jahrzehnte danach? Das sind dieFragen, die Elfriede Jelinek in ihrem jüngsten Theatertext umtreiben, uraufgeführt an den Münchner Kammerspielen.

Rechnitz (Der Würgeengel) greift den Massenmord auf, der im März 1945 auf dem österreichischen Schloss Rechnitz von SS-Männern an jüdischen "Ostwall"-Arbeitern begangen wurde und vor einem Jahr die Schlagzeilen beherrschte. In der FAZ behauptete der britische Boulevard-Journalist David R. L. Litchfield, dass das Massaker Teil eines "Gefolgschaftsfestes" gewesen sei, das Gräfin Margit Batthyány, Enkelin des Stahlmagnaten August Thyssen, und ihr Mann gaben. Belangt wurde sie dafür nie. Litchfield legte die Spur in Richtung dekadenter Orgie, als deren Höhepunkt die Gräfin die Erschießung angeordnet haben könnte. Beweise gibt es nicht.

Jelinek bohrt in dieser Leerstelle, zu der auch das Schweigen der Rechnitzer, ermordete Zeugen und nie gefundene Leichen gehören. In ihrem Stück lässt sie Boten über die Mordnacht sprechen, die in kollektiver Rede zwischen dem Allgemeinen der deutschen und österreichischen Seele mäandern, zwischen Schuld und Sühnestolz, Massenmord und Schweigemauer, gestern und heute. In Umkehrung zu Luis Bunuels Würgeengel-Film bleiben die Bediensteten, nachdem die mordlustigen Herrschaften gegangen sind.

Der Theater- und Opernregisseur Jossi Wieler, der sich schon mehrfach an Jelinek versuchte (und an den Kammerspielen zuletzt mit Ulrike Maria Stuart scheiterte), dampfte die rollenfreie Endlos-Suada auf zwei Stunden ein und verteilte das Kondensat auf fünf großartige Schauspieler: Hildegard Schmahl, Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer und Steven Scharf. Sie sind dienendes Personal und Festgesellschaft, Bunuels Bourgeoisie oder heutige Schickeria und schmeißen sich winkend und grinsend ans Publikum ran.

Ob das so scharf auf dieses Fraternisieren ist? Schließlich überschreitet die ausgestellte Bühnen-Dekadenz beschwingt Geschmacksgrenzen: Im dunkel getäfelten Jagdsaal von Anja Rabes pult Hildegard Schmahl gelangweilt den Belag von ihrer Pizza, schiebt ihn sich in den Mund, wirft den Rest in den bald verstopften Ausguss nahe der Rampe und wischt ihre fettigen Hände am eigenen Abendkleid sowie den Anderen ab. Ähnlich dreckig, mehr schmierend als essend, naschen sich die herrschaftlichen Boten durch Brathendl, Eier und Schokotorten, blicken sich in die Dekolletes, befingern einander beiläufig mit dreckigen Händen, greifen sich fest ins Fleisch. Währenddessen sprechen sie lächelnd oder abgeklärt von den abgemagerten Juden, beschreiben, wie diese sich ausziehen mussten, stellen Überlegungen über die Zickzackform des Grabes an.

Es ist ein makaberer, in sich geschlossener (und somit geisterhaft endloser) Reigen, den Wieler mit großer Präzision und zum Takt einer ganz und gar künstlichen, Pop, Volksweisen und Oper (Webers Freischütz) aufnehmenden Musik ablaufen lässt. Die fünf Boten pellen sich lasziv aus ihrer beschmierten Abendgarderobe, werfen sich über die Netzhemden, Unterkleider oder Seidenstrümpfe, später dann Pelzmäntel, tauschen diese gegen Dienstmädchenschürze und Chauffeurskappe, um am Ende wieder partyschick dazustehen. Sie holen sich Rat bei an der Wand hängenden Kopfhörern, suchen an der Rampe immer wieder lockend die Nähe des Publikums.

Die Leichen auf Schloss Rechnitz liegen nicht im Keller. Sie sind immer da, präsent in der Sprache oder in Symbolen wie jenen Jagdgewehren, die zusammen mit Hans Kremer auf die Bühne stürzen. Mit nervöser Ruhe drapiert sich erst die Schmahl vor den verräterrischen Haufen, dann setzen sich die anderen hinzu wie zu einem grotesken Gruppenfoto, um die Waffen zu verdecken. Indem Wieler Jelineks kalauernde Pointen und assoziierenden Schuldbeschreibungen so beiläufig elegant und durch Ekel gebrochen serviert, lässt er sie gefährlich funkeln - und direkt auf die Magengrube zielen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden