Verschwitzt

Historische Kulisse "Westflug" dokumentiert theatralisch die erzwungene Landung einer Tupolew in Tempelhof

Lange galt das Dokumentartheater als tot. Jetzt ist es wieder da, mit Protagonisten wie Andres Veiel, Gesine Schmidt (Der Kick) oder dem Theaterkollektiv Rimini Protokoll (Wallenstein). Auch die freie Gruppe "lunatiks produktion" stellt sich mit Westflug in diese theatertreffengeadelte Reihe. Das Stück basiert auf einem realen Ereignis: Am 30. August 1978 zwang ein bewaffneter Kellner aus Ostberlin den Kapitän des Linienfluges Danzig-Berlin(Schönefeld) dazu, die Tupolew 134 auf dem Westberliner Flughafen Tempelhof zu landen. Für die 50 Bürger der DDR stellte sich plötzlich die Frage: Zurückkehren oder bleiben? Oder: Was ist Freiheit?

Mit dieser Situation der ohne ihr Zutun in der BRD gelandeten Passagiere setzt sich "lunatiks produktion" auseinander. Für ihre Inszenierung, deren Text auf Interviews, Stasiakten und weiteren Archivmaterialien basiert, fanden sie mit dem Flughafen Tempelhof die ideale Kulisse. Wenn man die imposante Haupthalle betritt, gelangt man an realen Flugpassagieren vorbei zum Westflugschalter, und während einem das Ticket ausgestellt und der ostdeutsche Reisepass ausgehändigt wird, rotiert im Hintergrund das Gepäck des ankommenden Fluges aus Kopenhagen. Ein Zeitreisefahrstuhl bringt die Zuschauer in das Jahr 1978, ein historischer BVG-Bus zur Deutschen Kantine, einst Sitz des US-Casinos. Dort bietet sich ein großartiges Panorama: im Vordergrund die Ausstattung eines American Diners der fünfziger Jahre, mit Harley Davidson und Heinz-Ketchup; im Hintergrund das kühn auskragende Dach des Flughafens, unter dem einige Maschinen stehen.

Hier warteten die Reisenden auf ihre Rückkehr in die DDR und wurden zugleich mit der Option konfrontiert, im Westen zu bleiben. Aus der Fülle der Charaktere und Schicksale destillierte Regisseur und Autor Tobias Rausch fünf Typen: die Kombinatsarbeiterinnen Gerda und Grit, die ältere dem System ergeben, die jüngere neugierig auf das Leben; das Ehepaar Frank und Katrin, er ein sinnkriselnder und der politischen Begrenztheiten müder Fagottist, sie idealistische Lehrerin für Deutsch und Englisch; schließlich der junge Max, dessen Bruder bereits im Westen ist und von den unendlichen Möglichkeiten schwärmt.

Ihre Charakterisierung ist nicht frei von Klischees: natürlich ist das Paar in der Krise, funkt es zwischen Grit und Max und stellt sich das schöne westliche Leben des Bruders als Fiktion heraus. Je nach den Möglichkeiten der Schauspieler werden aus Dialogen Seifenopernszenen oder Charakterstudien. Wie fantasielos dabei der erste Teil über die beeindruckende Bühne geht, wie viele Möglichkeiten mit einer konventionellen Regieleistung und einigen peinlichen Textpassagen vor authentischer Kulisse verschenkt werden, ist nahezu ärgerlich. Doch die Pause belohnt mit einem ersten Höhepunkt, und das nicht nur, weil das schwitzende Publikum mit kühlem Wasser versorgt wird. Denn jetzt wird der gesamte Raum bespielt, sitzen die Schauspieler an verschiedenen Orten und lesen aus Verhörprotokollen, Interviews und Selbstzeugnissen von damals Beteiligten. Gerda und Grit etwa mangeln in der zum Wäschereikombinat umfunktionierten Kantinenküche und lesen sich dabei die Texte vor wie die Promiberichterstattung einer Illustrierten, während die Zuschauer wie unsichtbare Zeitreisende durch den kahlen Raum flanieren.

Momente wie diese, in denen sich Zeiten, Räume und Charaktere über- und ineinander schieben wie filmische Überblendungen, prägen dann auch den zweiten Teil und machen dessen Stärke aus. Da geht ein Verhör durch amerikanische Beamte nahtlos in eines der Stasi über. Franks Ehefrau übernimmt plötzlich die Rolle seiner Mutter, während die Darstellerin der Gerda Katrins Part spielt. Und in Frank materialisiert sich traumwandlerisch Max´ erfolgloser Westbruder. Hier zeigen sich die Möglichkeiten, die der Stoff bietet und die - freilich mit anderem Schwerpunkt - bereits Antje Ravic Strubel in ihrem Roman Tupolew 134 ausgelotet hat.

Dokumentarisches Theater muss gekonnt sein, andernfalls besteht die Gefahr, zu einer mittelmäßigen Guido-Knopp-Geschichtsstunde zu verkommen. Die Gratwanderung zwischen dokumentarischer Treue und theatraler Eigenständigkeit ist "lunatiks produktion" mit Westflug - anders als Veiels und Schmidts Kick oder den experimentierfreudigen Produktionen von "Rimini Protokoll" - nur bedingt gelungen.

Westflug startet noch bis zum 30.07.


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