Mit der Kreditkarte über die Mauer

Berlin-Besuch vor 40 Jahren Martin Luther King kam ohne Reisepass, doch mit einer Botschaft

Vor 40 Jahren, am 13. September 1964, war es dem afroamerikanischen Bürgerrechtler Martin Luther King gelungen, gegen den Willen der Außenstelle des State Departement der USA in West-Berlin die drei Jahre zuvor errichtete Mauer zu überwinden und in der Hauptstadt der DDR zu predigen. Wenige Tage zuvor, am 1. September 1964, war die Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates über die Aufstellung von Baueinheiten für die DDR-Wehrdientsverweigerer in Kraft getreten.

Alle Vatis tragen ein Gewehr - außer Vati - der ist "Spati", lautete ein Spottvers von DDR-Kindern auf die Nationale Volksarmee. 27.000 gemusterte Bausoldaten, die DDR-Wehrdienstverweigerer, gab es zwischen 1964 und 1989. Zum 40. Jahrestag der Existenz der "Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung" trafen sich rund 350 ehemalige Wehrdienstverweigerer in Potsdam. In der Abschlusserklärung des "Bausoldatenkongresses" heißt es, dass sich die Bausoldaten dem allgemeinen Machtanspruch des Staates, der die Bürger in militärische Gehorsamsstrukturen eingebunden habe, widersetzt hätten. "Unser Widerspruch wird weiter gebraucht. Heute setzen wir uns dafür ein, dass ein Recht auf Verweigerung geltendes europäisches Menschenrecht wird". Ihr Vorbild gewaltfreien Widerstands hätte Martin Luther King sein können, der in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden wäre.

Im September 1964, zwischen Papst-Audienz und der Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo, weilte der 35-jährige Martin Luther King auf Einladung des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt in West-Berlin. Er nahm an einer Gedenkveranstaltung für den ermordeten John F. Kennedy teil und sprach vor 22.000 Zuhörern in der Waldbühne.

Der Verwalter des Bischofsamtes in Ost-Berlin, D. Günter Jacob, lud den afroamerikanischen Bürgerrechtler zu einem Besuch in der Hauptstadt der DDR ein. Obwohl der Anti-Imperialist, Freiheitskämpfer und öffentlich bekennende Vietnamkriegsgegner Martin Luther King in der offiziellen DDR hoch im Kurs stand, war er den Ideologen der DDR-Partei- und Staatsführung dennoch verdächtig. Denn der Lehre vom gerechten Krieg, dem bewaffneten Befreiungskampf und der bewaffneten Revolution setzte Martin Luther King Geist und Methode des gewaltfreien Widerstands entgegen - und war seit dem legendären Busboykott von Montgomery 1955/1956 damit erfolgreich.

Suspekt war ein Martin-Luther-King-Besuch in Ost-Berlin aber auch der Vertretung des US State Departement in West-Berlin, das kurzerhand Kings Reisepass einzog, wie sich sein Begleiter und Dolmetscher, der damals in West-Berlin amtierende amerikanische Pfarrer Ralph Zorn, erinnert. King galt bei seinen politischen Gegnern in den USA längst als "Communist". "Der Antikommunismus hat uns in zu viele Sümpfe geführt ...", hatte der Pastor tatsächlich gesagt, doch die Einschränkungen, die diesen Satz begleiteten, wurden in West und Ost verschwiegen.

Auch ohne Reisedokument begab sich Martin Luther King gemeinsam mit Ralph Zorn an die Mauer zum amerikanischen Grenzübergang Check Point Charlie. Als die DDR-Grenzer King nach seinem Ausweis fragten, erwiderte Zorn, sie müssten den mittlerweile weltberühmten Bürgerrechtler doch an seinem Gesicht erkennen. Nervös telefonierten die Grenzer mit den DDR-Chefetagen.

Noch am 25. Juli 1964 hatte das Neue Deutschland Martin Luther King als Gegner des erzreaktionären Präsidentschaftskandidaten, Senator Barry Goldwaters, hochgejubelt. Doch nun stand die Symbolfigur leibhaftig am Grenzübergang. Auf Westberliner Seite hatte der Bürgerrechtler noch kurz zuvor die vor drei Jahren errichtete Mauer besichtigt und kritisiert. Dass King an diesem 13. September am Check Point Charlie vor der eisernen Türe stand, kam der SED nicht gelegen. Ihn zurückzuweisen schien aber ebenso unmöglich. Er solle sich, so kam die Order, "irgendwie" legitimieren. Martin Luther King zog seine American Express Card.

Die Predigt, die Martin Luther King am Abend des 13. September 1964 in der Ostberliner Marienkirche, gegenüber dem Roten Rathaus, halten sollte, war nirgendwo öffentlich angekündigt worden. Die Nachricht verbreitete sich von Mund zu Mund im Osten Berlins und darüberhinaus. Schon drei Stunden vor Beginn konnte wegen Überfüllung niemand mehr in die Kirche eingelassen werden. Die friedlichen Belagerer wurden aufgefordert, zur Sophienkirche in der Nähe des Brecht-Theaters zu ziehen, wo zu nächtlicher Stunde spontan ein zweiter Gottesdienst anberaumt wurde.

"Hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen", erklärte Martin Luther King von der Kanzel. Er berichtete über den von der Näherin Rosa Parks 1955 ausgelösten Busboykott in Montgomery, von der Philosophie und den Methoden Gandhis, die dem gewaltfreien Kampf der Afroamerikaner als Vorbild gedient hatten. Er würdigte die Studentenbewegung der sechziger Jahre, die mit ihren "Sit-ins" bereit war, lieber "mit Würde ins Gefängnis zu gehen als mit der Erniedrigung ohne Gleichheit zu leben", und geholfen hatte, die Rassentrennung zu überwinden.

Martin Luther King zeigte beispielhaft die Möglichkeiten einer Minderheit auf: "Wir sind der festen Überzeugung, dass der Neger aufgerufen ist, das Gewissen unserer Nation zu sein". Obwohl damals weder Martin Luther King noch seine Zuhörer etwas von den Ereignissen in der DDR 1989 ahnen konnten, hat eine Minderheit in den Friedens- und Bürgerrechtsgruppen oder in den Kirchgemeinden den Gedanken gewaltfreier Konfliktlösung in den Folgejahren verinnerlicht. Atemlos hörten die 1.500 dichtgedrängt in den Reihen sitzenden oder in den Gängen stehenden Gottesdienstbesucher Martin Luther King, der seine Predigt mit den Worten beendete: "In diesem Glauben können wir aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung hauen ... In diesem Glauben werden wir miteinander arbeiten, miteinander beten, miteinander für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden".

Wer in den DDR-Tageszeitungen Neues Deutschland, Zentralorgan der SED, der Berliner Zeitung, der Jungen Welt oder in der Uni-Zeitschrift Humboldt-Universität recherchiert, wird vergeblich nach dem King-Besuch in der "Hauptstadt der DDR" suchen, obwohl der Bürgerechtler auch mit farbigen Studenten der Humboldt-Universität diskutiert hatte. Martin Luther Kings Besuch in Ost-Berlin sollte sein einziger in einem sozialistischen Staat überhaupt bleiben.

Der Autor arbeitet im Martin-Luther-King-Zentrum in Werdau.

Zum 40. Jahrestag des King-Besuches in Berlin erschien das Buch Zeiten des Kampfes von Clayborne Carson über die Bewegung, des Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstandes in den sechziger Jahren in deutscher Sprache. Die Zur Buchpräsentation und Lesereise besucht Carson vom 29. September und 10. Oktober 2004 verschiedene Orte Deutschland.

Weitere Informationen unter: www.martin-luther-king-zentrum.de, Tel. Werdau 03761-760284.

Marienkirche Berlin, Karl-Liebknecht-Str. 8, Tel. 030-24759510


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