Jörg Immendorff hat ihn wohl wirklich gelebt, diesen Widerspruch, den viele Künstler seiner Generation empfanden, nämlich den zwischen einer Politik, die um die Begriffe wie „Masse“, „Volk“ und „Arbeiter“ entfaltet wurde, und einer Kunst, die immer individuell, einzigartig und neu sein muss. In seinen „Agitprop“-Bildern versucht er, indem er Wandzeitung, Comic und Plakat-Konzept zitiert, den Widerspruch nicht bloß, sozusagen in Aktion, zu überwinden, sondern er macht ihn auch immer wieder zum Thema. In der Ausstellung im Münchner Haus der Kunst lässt sich das etwa an dem ikonischen Bild vom Einbruch der Straße ins Maleratelier betrachten. Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege? funktionierte schon 1973 als perfekte Bilderfalle. Nur als Gespaltener kann der Künstler Kunst und Politik zusammenbringen, aber als Künstler ist er in der Lage, diese Spaltung zu bearbeiten. Wie sollte der Autor dem Ruf der Straße folgen, und zugleich sein Bild vollenden? Agitprop und Neodada brachten Immendorff seinerzeit schließlich die Entfernung aus den mehr oder weniger heiligen Hallen der Akademie ein.
Klotz am Bein
Um Kunst „politisch“ zu machen genügt es nicht, politische Themen zu behandeln, Statements abzugeben oder sich den am wenigsten korrupten Teil des Kunstbetriebs zu suchen. Es sind vielmehr zwei Impulse, die die Kunst von ihren Wurzeln her verändern sollen. Das eine ist der direkte Eingriff: Kunst, die sich in den Raum der sozialen Auseinandersetzungen erweitert, die mit ihren Mitteln zur Waffe werden will, oder wenigstens einigende und motivierende Energien erzeugen. Der pathetischen Frage, ob Kunst die Welt verändern könne, werden sehr viel pragmatischere entgegengesetzt. Ist Kunst ein Teil der Diskurse und Dispositive, die eine Gesellschaft durchdringen? Mit den Agitprop-Bildern hat Immendorff eine Zeit lang dieser Form der Politisierung dienen wollen, ebenso mit dem 1968 gegründeten Aktionsprojekt LIDL (Immendorff mit einem schwarz-rot-goldenen Klotz am Bein schleppt sich vor dem Bundestag auf und ab, bis die Polizei kommt). Was seine Kunst in dieser Phase so gut macht, ist freilich nicht dieser politische Gehalt, sondern der Umstand, dass er so vollständig der künstlerischen Persönlichkeit und den malerischen Techniken entsprach. Immendorff wollte den Unterschied zwischen Kunst und Leben, wie er sich im bürgerlichen Betrieb kanonisiert hat, nicht akzeptieren. Deshalb stellt er nicht nur übergroße Babybilder aus, sondern präsentierte sich auch selber mit aufgeblasenen Backen und Windeln als Baby. Wie vieles bei Immendorff: Ein sehr ernst gemeinter Witz.
Die zweite, vielleicht nachhaltigere Beziehung besteht in einer Umwandlung der Kunst-Funktion. Programmatisch dafür ist Das Bild muss die Funktion der Kartoffel übernehmen (1988). Das heißt, die Kunst müsste die Funktion eines Grundnahrungsmittels der Fantasie für alle haben (Immendorff malt sich selbst in dieses kulinarische Bühnen-Bild als Tellerwäscher). „Have Dinner with Immendorff“, spottet eine Schrift auf dem rechten oberen Bildrand. Die Kunst muss sich der Aneignung durch die wenigen entziehen, und immer wieder, wie auch auf diesem Bild, muss der Vorhang zwischen Zubereitung und Konsum, zwischen Bühne und Zuschauerraum geöffnet werden. Und sei’s um den Preise gegenseitiger Desillusionierung.
Der Immendorffsche Bildraum, Bühne, Kneipe, Café, Galerie und Atelier, ist ein Ort, an dem die bürgerliche Ordnung weder im sozialen noch im kognitiven Sinn mehr gilt. Natürlich hat das etwas Rauschhaftes, man verliert beim Hinschauen leicht den Boden unter den Füßen. Zugleich aber offenbart sich die Welt als ein Ineinander von Inszenierungen und Riten, die sich dem kritischen Blick durchaus erschließen. Das Rebusartige, Verschachtelte, Deutbare besagt vor allem: Diese Kunst kommt ohne die sehenden Menschen davor nicht aus. Auch wenn wir längst über die heroische Überredung des Agitprop hinaus sind, ist Immendorffs Kunst eine Funktion der Kritik inne. Nicht als Botschaft. Als Möglichkeit.
Der Legende nach ist das große Aha-Erlebnis, das Immendorf zur vollständigen Kunst-Existenz bringt, 1977 die Begegnung mit Renato Guttusos Bild Caffè Greco, auf dem der italienische Maler lebende und tote Künstler, Mythen und Kritiker zu einem bühnenhaften Arrangement vereint, indem sich Elemente des Intimen und Verborgenen mit Elementen des Öffentlichen und Zurschaugestellten verbinden. Ein Welttheater, das etliche Erfahrungen Immendorffs aufnimmt und verstärkt, seine Ausbildung als Bühnenbilder, seine Kneipenerfahrungen, seinen Traum von einer Malerei, die zugleich das Allerpersönlichste und das Allerpolitischste wiedergibt.
Loch in der Mauer
Immendorff nimmt diese Konstruktion auf, und erschafft jene Bilder um das Café Deutschland (1978), die ihn, wie man so sagt, allein unsterblich gemacht hätten. Alle Neoismen kommen hier zusammen, Neodadaismus, Neosurrealismus, Neoexpressionismus, Neorealismus, Neo-Art-Brut, Neoagitprop, Neo-Pop-Art … Wie, wenn nicht in einer Punk-Attitüde, wäre das zusammenzubringen gewesen?
Was in diesen Bildern beginnt, ist das nahezu endlose Spiel mit Deutungen, Entzifferungen und Aufschlüsselungen. Wer ist das da, im etwas schummerigen Mittelgrund rechts? Was bedeutet dieses Objekt? Haut der Künstler, der im Übrigen oft mehrfach im eigenen Bild auftaucht, die Mauer kaputt, die gleich wieder nachwächst, oder streckt er die Hand durch ein Loch in ihr aus? Ist der Adler das nationale Symbol der Bundesrepublik oder doch auch das scharfäugige Tier, das aus größter Höhe sieht? Um ein Immendorff-Bild in dieser Phase halbwegs umfassend aufzuschlüsseln, bedarf es einer absurden Diskursivität, unter der das Bild selbst zu verschwinden droht. Irgendwann wird es Immendorff selbst mit dem „Was will uns der Künstler damit sagen?“ zu viel, und er fordert, nicht ohne Koketterie, das Publikum auf, sich doch bitte vom Deutungsdrang nicht überwältigen zu lassen und sich einfach dem Bild als solchem zu überlassen. Natürlich ist auch das eine Falle.
Ist es trivial, die Malerbiografie des Jörg Immendorff als eine Abfolge von „Befreiungen“ zu beschreiben? Die Befreiung von Agitprop durch Punk, der bürgerlichen „Problemwelt“ durch die Politik, der Politik durch die Kunst, der politischen durch die reine Kunst, der Geschichte durch den Mythos. Nicht mehr und nicht weniger als sie als Abfolge von Abschieden und Aufgaben zu beschreiben. Der Abschied von der Hoffnung, sich mit der Kunst an der revolutionären Erlösung der Welt beteiligen zu können, der Abschied von der Rebus-Kunst der diskursiven Überfüllung, schließlich, aufgrund der fortschreitenden Nervenkrankheit, der Abschied von technischen Beziehungen zum Bild. Das Entscheidende ist, dass Jörg Immendorff es mitmalt, die Befreiung wie den Abschied.
Zu einer gewissen Zeit wird in der Bildwelt des Jörg Immendorff der Affe geboren. Mal klammert er sich an den Rücken des Malers bei der Arbeit, pfuscht ihm sozusagen ins Handwerk, und wie er wirkt, verrät der Bild-Titel: Der Malerfeind im Maler ist sein bester Freund. Der Affe lässt sich nur als Mythos lesen (der Affe, der nur imitieren, nicht „schöpfen“ kann, die Legende vom Gemälde des Affen, das hohe Preise bei Kunstauktionen erzielt, und genau das Gegenteil: das Sinnbild von Wildheit, Sinnlichkeit und Ursprung). Der Affe ist eine Abspaltung des Künstlers, sein Alter Ego, das segensreich und destruktiv wirken kann, ihn auf jeden Fall immer wieder aus der gefährlichen Ruhe bringt. Der Punk im mehr oder weniger arrivierten Künstler.
Neben dem Affen taucht auch der Adler immer wieder auf, nicht weniger Mythos, nicht weniger widersprüchlich, das statische Wappentier, Deutschland-West, steinerne Stabilität, und die stolz-solitäre Flugfähigkeit. Vom (gescheiterten) Versuch ein Adler zu werden handelt ein Immendorff-Bild. Jörg Immendorff hat die deutsche Teilung wie kein zweiter als Wunde, oder als „Naht“, behandelt. Dieses geteilte Deutschland war Teil seines Wesens, Teil des Café Deutschland, das schon deshalb nie so harmonisch sein konnte wie Guttusos Caffè Greco, der Riss ging stets durch seine Bilder und Skulpturen (Albtraum-Organismen, in die sich das Brandenburger Tor verwandelt). Als die Mauer fiel und Deutschland wieder ein Land war, hatte Immendorff zu dem Thema nichts mehr zu sagen.
Die drei großen Elemente im Werk von Jörg Immendorff, die politische Agitation und Reflexion, die kunstgeschichtliche Echokammer der Übernahmen und Bearbeitungen und schließlich das direkte und raue Autobiografische mussten sich immer wieder neu miteinander arrangieren. Das Bild des Babys am Beginn, das die Welt oder wenigstens einen Blumenstrauß umarmen will, und das der Ausstellung den trügerischen Namen gab, Für alle Lieben in der Welt, hat sich am Ende in eine Raupe verwandelt, die kranke Zelle, die dem Maler die Arbeitskraft und das Leben nehmen wird, und die sich auch wieder wird verwandeln können. Dahinter, nach dem Renaissance-Künstler Baldung Grien, die „Fortuna“, die sich auf Steinen und Krücken bewegt. Das ist ein sehr persönliches Bild über eine Krankheitserfahrung. Oder, wie sich diese Fortuna dann über eine kupferne Weltkugel aus sehenden Bändern bewegt, ein politisches. Kunst ist der Ort, wo es zwischen beidem keinen Unterschied gibt.
Info
Jörg Immendorff: Für alle Lieben in der Welt Haus der Kunst, München, bis 27. Januar 2019
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