Nichts und niemand auf der Welt ist so gnadenlos verkitscht und verkannt worden wie der zerrissene König von Bayern und seine architektonischen Träume. Nicht dass es einen Unschuldigen getroffen hätte; er steckte in ihm, dieser Hang zu Übertreibung, Eklektizismus, Künstlichkeit. Das unfertige Schloss Neuschwanstein ist ein ewiges Dokument des schlechten Geschmacks, es repräsentiert Monarchie als Farce. Es war keine Maske des Feudalismus, sondern ein Spiegel. Dem Volk öffnete es sich erst nach dem Tod des Königs, dann aber mit einer solchen Wucht, dass es für Menschen von weit her zum Synonym für Bayern, Bayern zum Synonym für Deutschland, Deutschland zum Synonym für Europa wurde. Wenn man aus Peking nach Neuschwanstein kommt, könnte man sich glatt in diesen Zustand verlieben.
So wie sich in Ludwig die Monarchie, aber auch der Traum von bayerischer Eigenständigkeit nur noch als tragische Farce entfalten konnte, so wiederholt sich dieser bayerische Widerspruch von Inszenierung und Realität als Farce. Zu Beginn seiner Regierungszeit ließ Edmund Stoiber von der CSU den Slogan „Laptop und Lederhose“ ausgeben, für eine weltoffene „Hightech-Initiative“ für das Land. In der Krise seiner Partei macht er nun den Grund für die Erosion einer für immer sicher geglaubten, populistisch-feudalen Regierungsform aus: Es sind die Fremden.
Rathaus voller Widersprüche
Jenes „Laptop und Lederhosen“, das im Rest der Welt zugleich Bewunderung und Spott auslöste, das ließ sich für die Regierungszeit Ludwigs II. (1864 – 1886) als „Königsschlösser und Fabriken“ beschreiben. Insbesondere zu Beginn war dieser König alles andere als ein Modernisierungsverhinderer, unter seiner Ägide entstanden Krankenhäuser, Brücken, Eisenbahnlinien, Mietwohnungen, Kanalisationen, Rathäuser, Hochschulen und eben Fabriken. Technisch, hygienisch und sozial war das alles durchaus auf der Höhe der Zeit, selbst die Arbeitersiedlungen durften sich fortschrittlicher nennen als anderswo. Die Modernisierungen, für die Architekten wie zum Beispiel Heinrich Gottfried Gerber (der vor allem die neuen Brücken baute), Gottfried von Neureuther (Verwaltungsgebäude) und Friedrich Bürklein (Bahnhöfe) stehen, unterscheiden sich auf den ersten Blick wenig von dem, was anderswo geschah. Allerdings: Die Verbindung von Funktionalität auf der einen, Ästhetisierung und Historisierung auf der anderen Seite tritt hier noch um einiges mehr in den Vordergrund.
Ein besonders augenscheinliches Beispiel dafür sind die neuen Bahnhöfe, wie sie vor allem in den Großstädten entstanden: Auffallend ist hier in der Regel der Widerspruch zwischen einer Außenfassade und Schalterhalle, die an pompöse, Tempel-hafte Feudalbauten erinnern, und einer Stahl-und-Glas-Konstruktion der Gleis- und Einstiegshallen. Ähnlich drastisch auch der Widerspruch in den Rathausbauten, allen voran dem Münchner Rathaus von Georg von Hauberrisser mit seinen Türmen, Erkern und Verzierungen und seiner inneren Funktionalität. Wie Schloss Neuschwanstein wird es von gutgläubigen Touristen in ganz anderen historischen Tiefen vermutet. Es ist Fake-Vergangenheit.
Oder, drastischer gesagt: Fake-Identität. Wenn man es nur „Kitsch“ nennt, verpasst man den eigentlichen Reiz dieser hemmungslosen, beinahe schon hysterischen Bauweise. Denn der Architektur-Boom in der Zeit Ludwigs II. musste ja nicht nur rasche Modernisierung mit der verbindlichen Staatsidee des Traditionalismus verknüpfen, sondern zugleich im Wandel eine Identität konstruieren, die der großen Bavarian Angst entgegenwirken sollte, nämlich vom preußisch dominierten Deutschen Reich schlicht gefressen zu werden.
Eine militärische Option bestand damals nicht, die politischen Optionen wurden immer enger, und nicht einmal mythisch-rhetorisch ließen sich die gleichzeitigen Impulse, ein guter Teil von „Teutschland“ zu sein und bajuwarische Eigenständigkeit zu bewahren, reibungslos praktizieren. Was blieb, war die Ästhetisierung. Und so wie Ludwig II. sein verlorenes Königtum durch radikale Ästhetisierung zu bewahren versuchte, so versuchten auch die scheinbar entgegengesetzten funktionalen und modernen Architekturen, einen ästhetischen Eigensinn zu bewahren. Bahnhöfe, Fabriken, Irrenanstalten und Kasernen – sie alle waren Teil eines Projekts der Ästhetisierung. In der Zeit König Ludwigs II. versuchte Bayern sich durch Bauten so sehr zu erfinden, wie es sich vorher durch Mythos und Folklore zu erfinden getrachtet hatte.
Das heutige Vergnügen an dieser Bautätigkeit liegt weniger in der Originalität als in der manchmal wirklich kuriosen, ja mutigen Verbindung des Gegensätzlichen. So wie Ludwig sich einen orientalischen Tempel bauen ließ, der nahtlos in eine riesige Jagdhütte übergeht, so bauten die Architekten Fabriken, Häuser, Brücken und Bahnhöfe, in denen sich Mittelalter, Griechentum, Moderne und Chinoiserie schamlos begegneten. Bayern war populistisch, lange bevor das Wort aufkam. Und postmodern war es schon vor der Moderne.
Info
Königsschlösser und Fabriken. Ludwig II. und die Architektur Architekturmuseum München, bis 13. Januar 2019
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