Dr. Söder und Mr. Burke

Konservatismus Hauptsache offen und ungreifbar, aber dennoch unterscheidbar: Eine Volkspartei namens CDU sucht nach ihren konservativen Wurzeln und kann sie einfach nicht finden

Drei unscharfe Gedankenkomplexe bestimmen die Geschichte der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft, Ableitungen einst unvereinbarer Impulse und Vorstellungen: Aus dem Sozialismus wurde die Sozialdemokratie, die sich immer weniger sozialdemokratisch macht, aus dem Liberalismus eine marktradikale Ideologie mit kleinen Bürgerfreiheiten und aus dem Konservatismus die Idee einer ziemlich breiten bürgerlichen Mitte, die gern hätte, dass sich nicht zu viel ändert. Der Trick dieser drei immer weiter verschwimmenden politischen Weltbilder war es, immer offener und ungreifbarer zu werden, sich rhetorisch aber zugleich vom politischen Gegner unterscheidbar zu halten. Man braucht ja Wahlkämpfe, wenn man Wahlen braucht.

Was ist Konservatismus? Schon historisch eine reichlich hybride Angelegenheit: eine bürgerliche Reaktion auf die moralischen und ökonomischen Fehlschläge der Revolutionen und Revolten, beginnend mit dem mehr oder weniger entsetzten Abwenden von der Französischen Revolution. Zugleich will der Konservatismus aber auch nicht unbedingt die Restauration der alten Monarchie und wendet sich nicht nur gegen den Sozialismus, sondern auch gegen den Liberalismus. Der Urtext der europäischen Konservativen, Edmund Burkes (1729-1797) Reflections on the French Revolution ist ein Sammelsurium von Stimmungsbildern; es ist extrem schwierig, darin einen „Diskurs“ zu entdecken, der solchen Namen verdiente, außer dass „Erhalten und Verbessern“ das einzig Wahre sei; und dazu passt, dass Burke und seine Bewunderer den Staat aus einem „heiligen Schleier“ entstanden wissen wollen, den Gesellschaftsvertrag aber durch einen common sense ersetzen wollten. Konservatismus sucht seitdem, um mehr als eine Art Ausweichbewegung zu sein und sich als Projekt zu verstehen, Assoziationen: Nationalkonservatismus, Christkonservatismus, skeptischer, realistischer, gemäßigter Konservatismus, Konservatismus der Junker, der Beamten, working class conservatism. Nicht nur zu Bismarcks Zeiten konnten sich verschiedene Konservatismen gegenseitig bekämpfen.

Der Konservatismus kehrt die Beweislast für gute Herrschaft um. Gute Herrschaft ist abhängig mehr vom Wohlverhalten des Bürgers als von der Weisheit der Regierung. „Wenn die Untertanen aus Prinzip rebellieren, wird die Politik der Könige tyrannisch“, warnt schon Edmund Burke, und unsere Konservativen von heute schwärmen vom „starken Staat“ und der „wehrhaften Demokratie“. Im weiteren Verlauf trennten sich indes angelsächsischer und kontinentaler Konservatismus; während für den Konservativen Mitteleuropas der Staat, die Kirche, kurz: die Institutionen der Ordnung im Mittelpunkt stehen, ist es in den USA insbesondere das Individuum. Der amerikanische Konservative verteidigt das Individuum gegen den Staat (und sei es gegen so etwas Fürsorgliches wie eine Krankenversicherung); der deutsche Konservative verteidigt den Staat gegen das Individuum (und gibt für die Ordnung gern die eine oder andere Freiheit drein).

Der Mensch, ein Mängelwesen

Beide Formen des Konservatismus entfalten sich eher als Haltungen und Erzählungen denn als Theorie. Nie gab es eine konsistente Philosophie des Konservatismus, wohl aber eine erstaunlich zähe Mythologie und Begrifflichkeit, die sich bei näherer Betrachtung nicht pragmatisch zeigt, sondern an Phantasmen und Psychosen überreich war und ist. Sich vom Linken und vom Liberalen zu distanzieren genügt zunächst als „Idee“ und führt immer wieder dazu, dass man sich, statt aus dem erklärten skeptischen Pragmatismus und common sense zu nähren, mit den allerschurkischsten der politischen Schurken verbündet. Es waren Konservative, gern „Erzkonservative“ genannt, die Hitler den Weg bereiteten.

Der common sense ist für den Konservativen daher nicht sündig, auch wenn er mit sündigen Mitteln hergestellt wird. Denn der entscheidende Glaubenssatz eines Konservativen ist der von der prinzipiellen Unzulänglichkeit des „Mängelwesens“ Mensch. Nur durch Führung, Erziehung, Institutionen, Ordnungen, Traditionen, Hier­archien und so weiter ist der an sich defekte Mensch zu heilen. Da er an den unvollkommenen Menschen glaubt, hat er die schwere Last des Linken nicht, den Menschen an sich als gut (Scheißverhältnisse!) zu sehen (und immer mal wieder an dieser Prämisse zu verzweifeln oder stalinistisch zu verkommen), noch die des Liberalen (der von einer „Eigenverantwortung“ ausgehen kann, die weder viel Rücksicht noch viel Staat braucht). Gerade weil Konservatismus keine eigene Theorie hat, borgt er sich die Rhetorik von anderen Impulsen; wenn die Konservativen auf ihr „politisches Urgestein“ zurückblicken, meinen sie in der Regel Leute, die reaktionäre und nationalistische Impulse ebenso zu bedienen wussten wie liberalen Ökonomismus und sozialdemokratische Fürsorge.

Nicht viel riskieren ist das Credo, keine allzu strengen moralischen Maßstäbe anlegen die Praxis. Die für den Konservativen obszöne Zeit ist die Zukunft (darum lehnt er das Planen nicht nur aus Gründen seiner Wirtschaftsordnung ab); er lebt in einer Gegenwart, die er als vorsichtig verbesserte Vergangenheit ansieht. Es ist logisch, dass hier am meisten Machtpolitiker sich durchsetzen und weniger Programmatiker; da der Konservative nicht an das Gute im Menschen, wohl aber an das Gute in der Macht glaubt, macht es ihm nichts aus, „die niederen Instinkte“ der Wähler für seinen Machterhalt zu mobilisieren.

Deshalb haben wir „konservative“ Politiker wie Roland Koch, die auf sonderbare Weise skrupel- und schamlos erscheinen. Es liegt in der Natur des Konservatismus, die Schlechtigkeit des Menschen für die Verbesserung der Macht auszunutzen (weshalb Konservative auch weniger von „schlechtem Gewissen“ geplagt werden und daher die „gesünderen“ und „natürlicheren“ Macht-Bilder abzugeben scheinen). So ist der Konservative im Wesen nicht unbedingt ein Reaktionär – er macht sich aber nichts daraus, reaktionäre Rhetorik zu verwenden.

Der Konflikt für einen „modernen Konservativen“ ist also nicht so sehr jener mit Sozialdemokratie und Liberalismus, sondern eher der zwischen dem angelsächsischen und dem mitteleuropäischen Konservatismus: Der individuelle Konservatismus ist der Wirtschaft zuträglich, der kontinentale dagegen dient dem Staat. Die CDU/CSU als neue konservativ-bürgerliche Kraft löste auch andere inner-konservative Widersprüche auf.

Suspekte Aufklärung

Als hätte es Bismarcks Kulturkampf nie gegeben, gab sie sich ein C in den Namen, leistete sich liberale und soziale Flügel und verhielt sich zu nichts so konservativ wie zur Geschichte des Konservatismus. Verdrängt wurde auch der Anteil der „konservativen Revolution“ an der Vorbereitung der nationalsozialistischen Herrschaft, verdrängt wird auch, dass die immer einmal wieder ausgerufenen „geistig-moralischen Wenden“ und die „Rucks“, die durch das Land gehen sollen, der Rhetorik der „Konservativen Revolution“ der zwanziger Jahre entsprechen, wenn auch in betont seifenblasenhafter Form. In der neokonservativen Bewegung in den USA bereitete sich neben der Marktradikalität die Herrschaft der Bushs vor; die CDU/CSU integrierte dagegen von Anfang an den rechten Rand mit sozialdemokratischen und liberalen Zügen. Man hatte und hat immerhin die gleichen Feinde, nicht nur die „Linken“, nicht nur die „Liberalen“, sondern vor allem auch jenes Projekt, das den Menschen aus seiner Unmündigkeit heraus führen würde: die Aufklärung.

Rechtfertigung und Impuls erhielt der politische Konservatismus seit den Zeiten von Burke durch die Anschauung der moralisch gescheiterten Revolution. Daraus entsteht ein Menschenbild, das eher indirekt mit dem „Bewahren“ zu tun hat. Es beschreibt den Menschen als in Vernunft und Emotion unvollkommenes und begrenztes Wesen und zwar in höchst unterschiedlichem Grad. Auch Arnold Gehlens Rekurs auf das „Mängelwesen“ Mensch steht in dieser Linie; es ist einem Konservativen im klassischen Sinne unvorstellbar, dass Menschen „gleich“ seien oder auch nur gleichberechtigt. Daher ist dem Konservativen eine ständisch und schichtenspezifisch gegliederte Gesellschaft das Ideal; der Aufklärung setzt diese Vorstellung von Ordnung direkte und indirekte Grenzen: Der Konservative „glaubt“ nicht an die Kraft der Aufklärung, und um seinen Glauben nicht zu gefährden, hat er nicht viel dagegen, wenn ihm durch Verbote und Zensur Nachdruck verliehen wird. Dann dient ihm, nur zum Beispiel, einmal die Gehlen’sche „Reizüberflutung“ als Argument: Der Konservative wettert unentwegt gegen den „Sittenverfall“, den er ökonomisch erzeugt. Demokratie ist dem Konservativen daher kein Ziel, sondern allenfalls ein Medium der Moderation, auf die Idee, „mehr Demokratie zu wagen“, käme er nie.

Merkel knuffen

„Liberal, sozial und bürgerlich-konservativ – das sind die Wurzeln der Union.“ So beginnt das vor einigen Jahren veröffentlichte, nun ja, Manifest unter dem Titel Moderner bürgerlicher Konservatismus – Warum die Union wieder mehr an ihre Wurzeln denken muss (was schon vorsichtig genug formuliert ist) von Stefan Mappus, MdL, Dr. Markus Söder, MdL, Philipp Mißfelder, MdB, Hendrik Wüst, MdL, also Vertretern einer vorgeblichen konservativen Renaissance in der Partei. Es rumort seitdem ein wenig; die Regierung Merkel hat als gefährlichsten Feind eine „konservative“ Bewegung in den eigenen Reihen. Das Papier, ein Knuff für Angela Merkel wohl, enthält dabei höchstenfalls ein gewisses Stimmungsbild mit ein paar verschleierten Ressentiments (gegen zu viel „Fremde“, gegen zu viel Soziales, für eine „Leitkultur“ und für verlängerte Laufzeiten der Atomkraftwerke) und sehr viel ökonomischem Interesse in einem semantischen Brei verpackt, von dem zumindest einiges bei Burke abgeschaut scheint.

So liegt die Krise der CDU und ähnlicher post-programmatischer Einheiten des bürgerlichen Konservatismus möglicherweise gar nicht darin, dass sie im Einzelnen konservative Vorstellungen nicht mehr „bedienen“ können, sondern darin, dass der common sense selber im verschwommenen Sinne so konservativ geworden ist, dass man damit gar nicht weiter auffällt. Die Partei der „bürgerlichen Mitte“ hat im Prinzip kein Alleinstellungsmerkmal mehr, ernsthaft hat sie auch keinen Gegner mehr (denn mit bestem Recht behaupten alle anderen, die Grünen und Naturschützer vorneweg, die „eigentlichen“ und authentischen Konservativen zu sein). Unsere Gesellschaft ist in der Praxis liberal, in der Moral sozialdemokratisch und in der Gestimmtheit konservativ. Daher müssen, will man sich konservativ positionieren und sich zugleich die Besetzung von „liberal“ und „sozial“ nicht nehmen lassen, neue Feindbilder herbeigezaubert werden (die Kommunisten sind, was das anbelangt, auch nicht mehr sehr ergiebig); wie wäre es zum Beispiel mit „Relativismus“: „Nach Jahren der Beliebigkeit und des Relativismus von Rot-Grün entsteht mitten in der Gesellschaft ein neuer, starker Wunsch nach dauerhaften Orientierungen“, so heißt es im Söder-Mappus-Manifest.

Dort steht auch: „Eine enge Beziehung zur Heimat, ein lebendiges Brauchtum, unsere reichen regionalen Traditionen und die Vielfalt unserer Mundarten bereichern unser Leben und können gerade in der globalisierten Welt eine wichtige sinnstiftende Kraft sein“, und im Bild-Interview legt Mappus unserem Autofähnchen-Nationalismus einen vor: „Wer für die Nationalmannschaft, also für Deutschland spielt, sollte dazu stehen, indem er vor dem Spiel die dritte Strophe des Deutschlandliedes singt. Das hat Jürgen Klinsmann so eingeführt, und das fand ich immer gut.“

Musikantenstadl-Konservatismus! Damit gewinnt man nur Wahlen, wenn man das Politische zugleich abschafft. Die Partei der bürgerlichen Mitte. Dieser semantische Konservatismus ist endgültig zum populistischen Begleitblubbern des Neoliberalismus geworden. Ansonsten taugt Konservatismus nicht mehr zu viel. Nicht einmal zum politischen Feindbild.

Von Georg Seeßlen erscheint im September in der Edition Suhrkamp: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (mit Markus Metz)

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