Neue Ökonomie und neue Härte

Genua Der G8-Gipfel vor 20 Jahren stand mit seinem Staatsterror für einen Siegeszug des Neoliberalismus
Ausgabe 29/2021

Zwischen dem 18. und 22. Juli 2001 wurde in der ligurischen Hafenstadt Genua ein letzter großer jugendlicher Demokratie-Traum zunichtegemacht. Beim 27. Gipfeltreffen der selbst ernannten „großen Acht“ unter den Regierungen, die ohne demokratische Legitimation den Weltreichtum unter sich aufteilten, wurde die italienische Polizei auf friedliche Proteste, Nachtlager und einzelne Demonstrierende gehetzt. Um es mit den Worten von Augenzeugen zu sagen: Es herrschte der unverhohlene Wille, zu verängstigen, zu verletzen, sogar zu töten. Genua 2001 wurde zum Symptom einer inneren Faschisierung der europäischen Exekutivorgane, wovon wir heute nur noch Randerscheinungen wie neonazistische Chats, Rassismus im Einsatz und anti-demokratischen Korpsgeist registrieren. Dem Social Forum als demokratischer Gegenveranstaltung war der Krieg erklärt worden; Unrecht, Folter und Überfall waren indes nicht Fehlleistung einer desolat eigenmächtigen, übermotivierten und unterkontrollierten Polizei, sondern politisch produzierter Höhepunkt einer Kampagne zur Erzeugung eines Feindbildes.

300.000 meist junge Menschen hatten sich in der Stadt versammelt, um nicht nur gegen die neoliberale Weltaufteilung zu protestieren, sondern auch in Diskussionen, Workshops und künstlerischen Interventionen an einer Gegenwelt zu arbeiten, an einer neuen Form der Solidarität in Vielfalt. Und das, obwohl für viele Aktivisten die Reise bereits an den Landesgrenzen endete. Nur zum Beispiel hatte ja in Deutschland Gerhard Schröder ein Ausreiseverbot für „gewaltbereite Demonstranten“ gefordert, das Otto Schily in die Tat umzusetzen versuchte. Vorausgegangen war eine ziemlich beispiellose Hetzkampagne, an der sich deutsche Politiker ebenso wie die gewohnten Medien der Niedertracht beteiligten. Man wollte die Gewalt. Und diese Provokation der Gewalt hat eine Geschichte.

Der Siegeszug des Neoliberalismus ist nicht zuletzt durch eine neue, performative Art von staatlicher Gewalt bestimmt. Die blutigen Niederschlagungen der Streiks in Großbritannien durch die Regierung Thatcher und im Amerika des Ronald Reagan wurden als Triumphe der harten Hunde der neuen Ökonomie medialisiert. Die Gewalt im Sozialabbau der Schröderfischers brauchte Bilder wie den „Schmarotzer“, den es zu verfolgen galt. Auch die Polizeieinsätze gegen die Proteste beim WTO-Gipfel in Seattle 1999 gehören zu einer Kette der Ereignisse: neue Ökonomie und neue Härte. Einen Monat vor Genua hatte Schwedens Polizei unter sozialdemokratischer Regierung beim EU-Gipfel in Göteborg zum ersten Mal scharfe Munition im Einsatz gegen Demonstranten erlaubt. Die Gewaltbereitschaft der Regierungen bei der Konstruktion eines anti-demokratischen, hybriden Welt-Neoliberalismus war wesentlich ausgeprägter als die bei den Opponenten. In Göteborg starb ein Mensch nur beinahe, in Genua musste es den Toten geben.

Zunächst schien es ein leichtes Spiel, die gewünschten Bilder und Nachrichten zu produzieren. Aber dann übertraf die Zahl der Teilnehmer an den Gegenveranstaltungen nicht nur alle Erwartungen, sie boten auch das Bild freundlicher, engagierter, kommunikationsbereiter und augenscheinlich alles andere als terroristischer Kultur. Genau dieses Bild einer mächtigen und friedlichen Gegenmacht aber musste verhindert werden. Nicht obwohl, sondern weil sie so friedlich waren, musste die Reaktion so brutal ausfallen. Man konnte es in Genua sehen: Es entstand Sympathie trotz der Medienhetze. Die Teilnehmer des Social Forum, die sich trotz eingeschleuster agents provocateurs nicht dem vorgezeichneten Bild der Gewalt unterwerfen wollten, mussten daher angegriffen werden. Das Projekt der Neoliberalisierung benötigt das vorhergesagte Gewaltbild. Ministerpräsident Berlusconi und sein neofaschistischer Stellvertreter Fini waren die Richtigen, dieses Bild zu produzieren, um jeden Preis.

Diese Gewalt war denn auch durch und durch berlusconistisch. Sie begann mit einer glamourösen Überpräsenz vor allem der Carabinieri, die mit schwerem Gerät und gepanzerten Fahrzeugen gleichsam Gewalt heraufzubeschwören versuchten. Sie zerfaserte dann in illegale, unverhältnismäßige und zum Teil durch Fakes angeheizte Straßeneinsätze und kulminierte im sadistischen Überfall auf die Diaz-Schule. Auch die Ermordung von Carlo Giuliani folgte dem Schema: Ein junger Wehrdienstleistender erschoss ihn, einer von vielen, die man aufgehetzt und „von der Leine gelassen“ hatte. Eine Tragödie der Italianitá: das durch die Einheit von Entertainment und Faschismus ums Bewusstsein betrogene Volk gegen die unerwünschte aufklärerische Moderne. Aber sogleich wurde über diesen Mord ein Lügengeflecht gelegt, erst sollte Carlo von einem Stein aus den eigenen Reihen, dann in Notwehr getötet worden sein, und schließlich, beim Freispruch von Mario Placanica, wurde behauptet, ein geworfener Stein habe den Schuss, den er als Warnung in den Himmel abgegeben habe, abgelenkt. Die Unverschämtheit des Lügengeflechts war Teil der Machtdemonstration einer post-demokratischen Regierung und ihrer Organe.

Der Spirit von Solidarität

Im Nachgang entfaltete sich ein Netz von Intrigen, Verschleierungen und grotesken Zurschaustellungen der Fähigkeit, sich über alles hinwegzusetzen, was an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie errungen worden war. Wer zur Rechenschaft gezogen wurde, von dem konnte man mit einiger Sicherheit sagen, dass er gewissen Kreisen ohnehin ein Dorn im Auge war. Hinter den Kulissen wurde der Fall Genua, der Zynismus kennt kein Ende, dazu missbraucht, einige Juristen und Polizisten loszuwerden, die sich im Kampf gegen die Mafia hervorgetan hatten. Der Gegner war eine Jugend, die noch nicht vom Geist des Neoliberalismus durchdrungen war und von der Welt etwas anderes als Konsum und Karriere verlangte. Alexis Tsipras erinnert sich: „Wir hatten den Glauben daran, dass wir etwas wirklich Sinnvolles tun würden, nicht mehr jeder für sich allein und im eigenen Land, sondern gemeinsam, und zum ersten Mal spürten wir, dass unsere Gegenwart ausreichen könnte, die Macht dieser undemokratischen Vereinigung infrage zu stellen.“ Es galt also, diesen Spirit von Selbstermächtigung, Sinnsuche und Solidarität zu brechen. Es galt, um jeden Preis ein positives Bild dieses Aufbruchs zu verhindern. In Genua gelang das so gut, dass die postdemokratischen, neoliberalen Gesellschaften beinah vor sich selber erschrocken wären. Es war einfach zu offensichtlich. In dieser berlusconistisch-willkürlichen Gewalt steckte auch schon die systematisch-eliminatorische Gewalt der Faschisten von der damaligen Alleanza Nazionale, deren Vorsitzender Gianfranco Fini war. Hätte es damals noch demokratische Politiker*innen auf der Weltbühne gegeben, sie hätten gewarnt sein müssen. Stattdessen unterstützen gerade die „neuen Sozialdemokraten“ den Weg der Gewalt. Wie sehr die italienische Polizei damals schon faschistisch unterwandert war, zeigte sich beim Verhalten der Carabinieri gegenüber den Gefangenen in der Bolzaneto-Kaserne, wo sie faschistische Parolen und Lieder grölten. Es schien, als hätten sich die Polizisten des Jahres 2001 von der Darstellung der Faschisten in Pier Paolo Pasolinis Film Saló inspirieren lassen. Sie sahen – mehrheitlich, denn was mit Dissidenten geschah, können wir nur erahnen – in ihren Attacken den Triumph eines kommenden Systems, in dem für fremde Chaoten kein Platz mehr sein würde.

Aber der scheinbare Sieg hatte eine soziale Folge. Genua wurde in den Rang einer „Schande“ und eines „Traumas“ erhoben. Denn die drei Bild-Erzählungen hatten ihr Eigenleben entwickelt: die Verletzten, die Blutspuren, die Angst und das Entsetzen in den Augen der Opfer, das martialische, lachend-sadistische Auftreten der uniformierten Täter. Die tätige Solidarität der Bewohner von Genua, die den Gejagten Unterschlupf gewährten, die Wasser brachten, um Blut und Tränen abzuwaschen. Und eine Menge am Strand, die ungerührt ihrem Vergnügen nachging, gleichgültig gegenüber dem Rauch und dem Lärm, die andere Zukunft des Neoliberalismus.

Man kann nur vermuten, dass der weltweite Schock durch die Geschehnisse in Genua durch den größeren Schock von 9/11 übertönt wurde. Das Bürgerkriegsszenario wurde ersetzt durch ein neues „Weltkriegs“-Szenario. „Die Erinnerung“, so das Motto der italienischen Abteilung vonIndymedia, „ist eine kollektive Kraft.“ In Italien bricht derzeit eine Wunde auf: der Film In Campo nemico, Sammlungen von Aufsätzen, Comic-Reportagen von Zerocalcare und Francesco Barilli, Veranstaltungen. Im Palazzo Ducale, dem damaligen Versammlungsort der Politiker und heutigen kulturellen Zentrum der Stadt, findet ein Runder Tisch für eine „produktive Verarbeitung“ statt, aber in der Trauer auch hier Resignation. Statt des Bildes der utopischen Gegenkultur bleiben die ambivalenten Gewaltbilder. Statt der Hoffnung bleibt das Trauma.

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