Kein Mensch hat mehr Kultur als ein anderer, er hat nur eine andere Kultur als andere. Kultur ist das Überlebens-, Identifikations-, Kommunikations-, Erkenntnis-, Glücks-, Distinktions-, Erfahrungs-, Ordnungs-, Freiheits- und Bewegungssystem, mal in dieser, mal in einer anderen Reihenfolge, und daher jedem Menschen eigen. Welche, das bestimmen das Territorium, die Geschichte, die Religion, die Biografie, die Familie und nicht zuletzt: die Klasse.
Es gibt keine Kultur, in der nicht auch die Macht- und Besitzverhältnisse wirken. Mit der Kultur ist es wie mit dem Geld: Nicht nur die Sache selbst, sondern auch das Wissen von ihr ist ungerecht verteilt. So klar es ist, dass es weder hohe und niedere noch bedeutende und unbedeutende Kultur gibt, so klar ist auch, dass nicht jeder Mensch das an Kultur bekommt, was er haben will und davon gebrauchen könnte. Und mit der Klasse ist es nicht anders. Einen Staat, eine Gesellschaft, eine Partei, eine Bewegung erkennt man am besten daran, was sie mit der Kultur vorhaben.
So könnte man wohl poetisch sagen: Kultur ist zugleich der Ausdruck von Macht und Besitz und der Sehnsucht danach, in ein Jenseits von beidem zu gelangen. Und jedes Verstehen von Kultur beginnt mit dieser Ambivalenz, ob es um die neueste Video-Arbeit von Jean-Luc Godard oder die Anordnung von Schrauben im Baumarkt unseres Vertrauens geht, um Caravaggio oder Helene Fischer. Kultur, jede Art von Kultur, ist zugleich ein Gefängnis und ein Ausbruchsplan.
Der Unterschied liegt nicht in der „Qualität“ von Kultur, sondern in ihrer Funktion. Das drückt sich zunächst in ihrer Beziehung zur politischen Ökonomie einer Klasse aus. Im Bürgertum ist Kultur Teil der Produktivität und der Dynamisierung; Kultur kann hier zugleich akkumuliert (also in Wert verwandelt) und transformiert (also in Produktionsdesign verwandelt) werden. Im Proletariat dagegen dient Kultur vor allem der Reproduktion (der Arbeitskraft) und der Stabilität (der Würde und dem Zusammenhalt). Der Austausch von Kultur-Elementen zwischen oben und unten ist daher extrem ungerecht: Die bürgerliche Aneignung von Volks-, Massen-, Industrie- und proletarischer Kultur dient einer Wertschöpfung; die Aneignung von Teilen der bürgerlichen Kultur durch das gesellschaftliche Unten dagegen der Integration, wenn nicht der Unterwerfung. Was nicht bedeutet, dass man sich gegenseitig nicht auch subversiv und vergiftet begegnen kann.
Der Spott der Comedians
Aus dieser diversen Funktion von Kultur zwischen Produktivkraft und Ordnungsfaktor hat sich die scheinbar paradoxe Situation ergeben, dass sich die bürgerliche Kultur (sagen wir: der dynamischen Mittelschicht) progressistisch und manchmal sogar „revolutionär“ entwickelte, die des Volkes, der Unterschicht und des unteren Kleinbürgertums dagegen häufig konservativ bis reaktionär. Schon hier beginnt die Verzweiflung jeder linken Kulturkritik.
Sie behilft sich zunächst mit der Unterscheidung zwischen einer Kultur von unten und eine Kultur für unten. Letztere kann nichts anderes sein als industrielle Traum- und Ideologieproduktion für die Massen, deren Hersteller und Erzeuger ihren Zynismus in Sätzen wie dem eines berühmten deutschen Fernsehmachers ausdrücken: „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“ Aber was hat es mit der Ersteren auf sich? Im idealisierten Blick ist es die Kultur, die jenseits der Herrschaft und aus dem Stolz des Volkes oder der Klasse entsteht. Es dürfte am Ende um nicht weniger gehen als um Formen der Selbstermächtigung und Rebellion. Und darum, kulturelle Produktionsmittel zu entwenden oder neu zu erfinden (die Hauswand muss zur Malfläche werden, und die Straße zur Bühne).
Tatsächlich kann es sein, dass die Kultur zur Sprengkraft im demokratischen Kapitalismus wird, weshalb es auch kein Wunder ist, dass die Bluthunde des Kapitals, die Rechtspopulisten und Neofaschisten, zuallererst einen „Kulturkampf“ anzetteln.
„Unterschichtkultur“, wissen wir doch, ist billig, viel, bunt, laut und giftig. Man erkennt sie an Übergewicht und schlechten Zähnen, spritfressenden Autos, absurden Kinder-Vornamen, Nagelstudios, Blasmusik in Möbelhäusern, Nachmittagsfernsehen, Bild-Zeitung, Mittagessen am Dönerstand, goldenen Handytaschen, Mario-Barth-Humor … Bei solchen Zuordnungen freilich darf man fragen, was da zwischen Statistik, Anschauung und Denunziation passiert. Der Großteil der „Unterschichtkultur“ ist selber eine kulturelle, mediale Erfindung, und niemand scheint so obszön fasziniert von ihr wie der verkommene Erbe des „Bildungsbürgers“. Der postbildungsbürgerliche Comedian (und von wem sonst haben wir unsere Klassenbilder?) betreibt den Spott über „Unterschichtkultur“ in etwa wie das Blackfacing der rassistischen Denunziation.
Kultur sollte alle Klassen binden
Der Preis für Kultur ist unten unterm Strich höher als oben: Kultur „oben“ ist Wertsteigerung, Kultur in der Mitte ist Produktionssteigerung, Kultur unten ist vor allem Verbrauch. So träte, was die Kultur für unten anbelangt, aus der Mitte neben das Qualitätskriterium ein moralisches Kriterium. Die Illusion aus dem Discounter, wenigstens ein klein wenig Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu erhalten, ist auch noch schuld an ökologischen, sozialen und nun eben politischen Desastern anderswo.
Nun fällt es einem als gewöhnlichem Kiez-Bewohner (und Linkem) nicht leicht, angesichts der Besserverdiener-Kleinfamilien, die auf dem Radweg vom Eltern/Kind-Yoga zum Bio-Laden über alternative Wärmedämmung plaudern, dem Impuls zu widerstehen, beim nächsten Büdchen Currywurst und Dosenbier zu ordern und im KiK das T-Shirt mit der scheußlichsten Applikation zu kaufen. Bescheuert ist beides, aber aus dem Widerspruch der beiden Verhaltensweisen ist möglicherweise eine Erkenntnis über die Herstellung kultureller Differenz zu gewinnen.
Die demokratische Hoffnung des „Kapitalismus mit menschlichem Gesicht“ in der Nachkriegszeit lag darin, „Kultur“ von ihrem Klassen-Charakter zu befreien, oder zumindest Schwellen und Türsteher abzubauen. Kultur sollte durch offene Museen, Theaterfestspiele und Fernsehen mit Bildungsauftrag im Idealfall ein Gemeingut werden. Zugleich schien Ideologiekritik und industriekultureller Hedonismus für die Bürger-Kids der 60er, 70er und 80er Jahre kein Widerspruch mehr zu sein. Die Berührungsängste zwischen oben und unten verloren sich, und es entstand ein dritter Bereich, in dem Bürger-Kunst und Ghetto-Style einander begegneten, man nannte es Pop. „Kulturelle Identität“ schien hier eine frei verfügbare Technik des Zusammensetzens zu sein.
Jedenfalls verlor sich in bestimmten Segmenten die Distinktion der politischen Ökonomie von Kultur. Ein Helene-Fischer-Konzert ist teurer als ein Symphoniekonzert; für den Gegenwert von zwei Mass Bier auf dem Münchner Oktoberfest kann eine Familie einen Tag in Museen und bei Matineen verbringen, Imbiss inbegriffen; für einen Musical-Besuch kann ich sämtliche „elitären“ Theaterproduktionen einer Großstadt besuchen usw. Der billigen Alltagskultur steht eine maßlos überteuerte Event-Kultur gegenüber, die es aber durch mediale Unterstützung zur Verpflichtung gebracht hat, wie Traumhochzeiten, Junggesell*innen-Abschiede, Halloween-Partys, Black-Friday-Shoppingtouren. Insbesondere der enteignete und entwürdigte Verlierer-Teil des Kleinbürgertums ist es, der seine verbliebenen Ressourcen in einem veritablen Sturm des Massenluxus verpulvert, als müsse er sich noch einmal aufpumpen vor dem endgültigen Abstieg ins Prekariat. Wenn man ganz unten ist, sieht Kultur noch einmal anders aus. Da wird es um ein geheiztes Zimmer, um Zeitungslektüre in der Stadtbibliothek und darum gehen, Kindern zu erklären, warum sie nicht auf Klassenfahrt gehen und keine Spielkonsole haben können.
So wie die bürgerlich-liberale Kultur an ihr politisches Ende gekommen scheint, weil sie keine Einheit aus Kritik und Genuss mehr findet, so muss die Kultur unten an ihr ökonomisches Ende gelangen, weil auch der bescheidene (und für „schuldig“ befundene) Anteil am gesellschaftlichen Reichtum nur auf Zeit gewährt wird und schneller als eine Weihnachtsdeko aus China ihren Illusionscharakter offenbart. Bevor es zu der politischen Spaltung der Gesellschaften des Westens kam, die wiraugenblicklich mehr oder weniger fassungslos erleben, fand eine kulturelle Spaltung statt. Und die Bewohner des Prekariats lernen, in gleich zwei Kulturen der Verzweiflung zu wandern. Zur gleichen Zeit will sich die Klasse in „das Volk“ verwandeln und setzt zur großen Kulturrevolution an: Der Widerspruch zwischen Politik und Ökonomie soll durch Faschisierung der Kultur behoben werden.
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