Ich gestehe: ich bin ein Radio-Mensch. Ich mache gerne Radio, und ich höre gerne Radio. Ich meine damit ein Radio, das etwas sendet, was ich empfange, und nicht etwa jenes Radio, das einfach nur "läuft". Ein Radio, das an die Würde eines Textes ebenso glaubt wie an die Existenz von Musik. Und eines, das sich manchmal auch erlaubt, seine eigenen Möglichkeiten der akustischen Komposition über das alltäglich gewohnte Maß hinaus auszuprobieren. Je wertloser das Fernsehen, desto größer wären die Chancen für eine Radio-Renaissance. Sollte man meinen.
Leider gibt es dieses Radio, das ein Minimum an Geschmack und Intelligenz beim Sender wie beim Empfänger voraussetzt, immer weniger. Es wird von allen nur erdenklichen Seiten bedroht, am meisten aber von seinen Produzenten selber, die in panischer Angst und vorauseilendem Gehorsam stets daran arbeiten, das Programm "flotter" und "hörbarer" zu machen. Daher schafft man die langen Formate ab, stutzt die Magazin-Beiträge, kippt noch zwischen halbwegs hörbare Beiträge eine grauenhafte Musik-Soße (als müsste jemand, der gerade etwas über ein Buch gehört hat, in dem ganz viele lange Sätze mit Wörtern mit mehr als drei Silben stehen, stante pede mit einer Minute Kaufhausmusik für seine intellektuelle Anstrengung entschädigt werden).
Im Radio droht sich das Drama der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten zu wiederholen: Aus Angst vor den "Privaten", die sich so hörernah wie sprachlos gemacht haben, opfert man im Quotenwettbewerb nur allzu gern das qualifizierte Minderheitenprogramm. Die Lust daran, einem halbwegs aufgeklärten Zeitgenossen eine ästhetische oder geistige Freude zu machen, ist nur halb so ausgeprägt wie die Angst, man könnte damit einen Mainstream-Hörer verprellen. Gewiss würde man wohl nicht so panisch in der Konkurrenz zwischen lokalen Musik-Sendern und öffentlich-rechtlichem Programm reagieren, wenn man nicht so leicht bereit wäre, einschalten mit zuhören zu verwechseln. Aber weil der Werbung dieser Unterschied ziemlich egal ist, da sie den Hörer ja mit ihren eigenen Mitteln "abholt", dürfte ich mir dieses Argument wohl unter den wackelnden Schreibtisch stecken.
Das Lokalradio ist unerreichbar. Ich hoffe, irgendwann wird mal jemand die Archive durchforsten oder sich selber eine Sammlung der schönsten "Hörernähen" anlegen. In meinem Lokalradio erhalte ich Nachrichten über den Hundezüchterverein und Interviews mit dem Trainer von FC Unterthingau. Und das Moderatorenteam ist mindestens so spontan wie die Moderatoren im "Frühstücksfernsehen". Sie unterhalten sich über die richtige Temperatur für Kaffee und das Stoffmuster ihrer Kleidung. Und sind unheimlich gut drauf. Behaupten sie jedenfalls dauernd. Der eine hört sich an wie mein Nachbar. Er macht auch immer die gleichen Witze wie mein Nachbar. Kein Wunder: Es ist mein Nachbar.
Im Fluß der immergleichen Musikstücke, die freilich sehr genau austariert sind für ein so nahes Publikum und im Nonsense-Dampfplaudern der Sprecher, denen, wie gesagt, zukünftige Sprach- und Kulturforscher das eine oder andere Kapitel widmen sollten, tauchen wie schrille Zwischenspiele Telefongespräche mit den Hörern auf. Das Programm, ja das ganze Medium scheint mit einem mal für die Öffentlichkeit "da draußen" durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Die Empfänger werden zu Sendern, jedenfalls in Minuten-, manchmal auch nur in Sekundentakten. Aber wahrscheinlich hat Bert Brecht sich diese Umkehr in seiner Radio-Theorie anders vorgestellt. Im Normalfall nämlich wird dem auf Sendung telefonierenden Menschen nur die Beantwortung einer mehr oder weniger blödsinnigen Frage abverlangt, damit er sich auf Sendung entweder blamieren oder wahrhaft tierisch über einen Hundermarkschein oder ein freies Pizza-Essen freuen kann. Radio-Telefonieren kennt keine Grenzen, die Jüngsten vor Schulbeginn, die Hausfrauen am Vormittag, die Älteren am Nachmittag, die Zeitungleser am Abend. Ein Volk telefoniert öffentlich, gibt Antwort auf blödsinnige Fragen, richtet selber blödsinnige Fragen an "Gäste im Studio" nach der Haltbarkeit von Erdbeermarmelade oder den Erfolgsaussichten von Akkupunktur, oder gibt seine Meinung kund, zur Abschaffung des Ladenschlussgesetzes oder zur Erhöhung des Dieselpreises. Und zwischendrin, inmitten der endlosen Vernetzung von Meinungen und unnützem Wissen, tauchen am öffentlichen Telefon die "Experten" auf, die in einem "kurzen Telefon-Interview" Auskunft über ein hochbrisantes Thema geben sollen. Ich sage es, als leidlich betroffener, ganz offen: In dieser anscheinend bei den Produzenten wie bei den Hörern so beliebten Form kann jeder Idiot zum Experten werden. Auf jeden Fall wird jeder Experte dabei zum Idioten. Was natürlich, so rein antiautoritär gedacht, seinen Wert in sich hat. Was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist der eigentliche Inhalt, das eigentliche Projekt: das einerseits würde- und respektvolle, andererseits grund-demokratische Weitergeben von Perspektiven und Wissen.
Auch mein Insel-Radio ist von der Telefonitis heillos infiziert. Es gibt Tage, da wird in diesem Radio fast nur noch telefoniert. In der Sendung für die Hausfrau, in der Kultursendung, im politischen Magazin, im Kinderfunk, ganz abgesehen von den reinen Radio-Telefonsendungen, die ihren festen Sendeplatz und ihren Höhepunkt in der samstagnächtlichen öffentlichen Übertragung einer speziellen Telefonseelsorge haben. Das Prinzip der Gleichbehandlung in allen diesen Sendungen führt freilich dazu, dass der einzelne Anrufer in der Regel schneller lästig wird, als er eigentlich zum Punkt kommt. So entspinnt sich, das ist die Meta-Ebene unserer Unterhaltung bei dieser Sendeform, ein gelegentlich grimmiger Kampf zwischen dem Mitteilungsbedürfnis des anrufenden Hörers und der Programmeile des Moderators: "Es warten noch so viele andere Hörer..." Standardsatz zugleich zum Wortabschneiden und zur Selbstreklame. Ein akustisches Move 'em in, move 'em out. Drehtür-Kommunikation.
Ein guter Moderator, eine gute Moderatorin einer Telefon-Radio-Show spielt mit den Anrufen wie Hitchcock mit den Gefühlen, nämlich wie auf einer Orgel. Er tariert die Bässe und die Höhen, die schrillen und die sanften Töne, kokettiert mit den Aufmüpfigen, weist die PR-Akteure in eigener Sache zurecht und tröstet die Gebrochenen. Am Ende steht ein perfektes Kommunikations-Simulationsspiel, dem, wie ich weiß, viele Menschen einen Effekt von Teilhabe, Geborgenheit und Bedeutung unterstellen, der dem schrilleren und obszöneren Medium Fernsehen abhanden gekommen ist. Im Fernsehen kann man vielleicht ein Held für ein paar Minuten werden, im Radio kann man das zärtliche und rare Gefühl genießen: Jemand hört mir zu.
Oder anders herum: Jemand sagt etwas, und meint auch wirklich mich. Die Verbindung von Radio und Telefon hat ein ganz eigenes Genre jener Verknüpfung des Öffentlichen mit dem Intimen hervorgebracht, der wir einerseits den Untergang unserer Kultur oder wenigstens den Verlust des Respekt vor einem klaren Gedanken unterstellen, der aber andererseits Motor unserer gesellschaftlichen Entwicklung und somit ungemein faszinierend scheint. Radio-Telefonitis sagt: Jeder kann etwas sagen, aber nur ein biss chen, dann kommt der nächste dran. Der Unterhaltungswert des Hörerbeitrages ist um so größer, je persönlicher er ist. Daher kommt es weniger darauf an, was man sagt, sondern wann man es sagt und wie man es sagt. Zu jeder Meinung wird die Gegen-Meinung abgefragt, zu jeder schlechten kommt die gute Nachricht. Der Sender läßt seine Empfänger sprechen. Aber nicht um sich zu öffnen. Sondern um Bindungen und Rückkopplungen zu bestätigen. Er bietet sich an als Wald, in den man hineinschreien darf.
Das Telefon-Radio als Kommunikations-Simulation hat gegenüber den distanzierteren und diskursiven Wort-Sendeformen seine unzweifelhaften Vorteile. "Lebendigkeit", Offenheit für das Unvorhergesehene (wenn natürlich auch im Hintergrund sehr viele Sicherheiten eingebaut sind, von denen wir als Hörer wenig oder gar nichts bemerken), ein Gesprächsfluss, den durch Betätigung des Ausschaltknopfs zu unterbrechen wir die Ungezogenheit nicht haben. Eine dramatisch wechselnde Tiefe der Information: Das war saudumm! Die Hörerin hat gar nicht so unrecht. Die Möglichkeit, nach Belieben emotional ein- und auszusteigen wie bei einer Soap Opera. Das Gefühl der direkten Verbindung mit der Wirklichkeit. Das Versprechen eines Ombudsman-Radios oder eines Radios zur letzten Hoffnung. Die Vernetzung der Hörer, wenigstens wenn es um die Zusammenführung von Zigarrenrollen-Sammlern oder Tierparkbesuchern geht.
Aber all das kann auch gegen das Telefon-Radio verwandt werden. Denn wo es nicht sowieso ein sado-masochistisches Narrenspiel ist, da bleibt es vor den möglichen Konsequenzen kalt. Wir ahnen, nein wir hören es: Wenn eine Hörerin oder ein Hörer sein oder ihr "Stück" abgeliefert hat, hat ihn das Medium auch schon gefressen und verdaut. Damit, dass meine Nöte, Zweifel und Forderungen für einen Augenblick öffentliches Programm geworden sind, ist nichts gelöst und nichts bewirkt. Nur ihr Ausdruck hat sich versendet.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.