Süße Lügen

Diskurs Die Hallodris in Italien sind faul und können nicht haushalten, so der Deutschen liebstes Klischee. Es ist ein Narrativ, das der Ablenkung dient
Ausgabe 23/2018
Süße Lügen

Illustration: der Freitag

In Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Il Gattopardo hat Fürst Tancredi eine wichtige Einsicht: Es muss sich alles ändern, damit alles gleich bleiben kann. Mit dieser Einsicht sind die Tancredis noch heute im harten Kern der Macht und sind durch die Veränderungen nicht vertrieben worden, sondern mächtiger denn je.

Was gerade in Italien geschieht, mag ein bizarrer Seitenweg der Postdemokratie oder ein notwendiger Zwischenschritt sein, jedenfalls ist es nicht nur ein Regierungs-, sondern ein Systemwechsel, der dritte in der italienischen Nachkriegsgeschichte. Zu dem, was da gerade geschieht, gibt es hier, unabhängig davon, was es eigentlich ist, drei Erzählungen: die von der typisch italienischen Ereigniskette, die durchaus auch für uns gefährlich werden kann. Die von einem Symptom, einer speziellen Reaktion auf Krisen, in denen wir uns alle befinden, die der kapitalistischen Demokratie, der EU, des politischen Liberalismus. Und die Dritte: Was in Italien geschieht, kann morgen auch bei uns geschehen, auf andere, spezifische Weise, gewiss, doch in den gleichen Grundstrukturen.

Sehnsucht und Verachtung

Dreimal dürfen wir raten, welches der Deutschen Lieblingsnarrativ ist. Ihr Blick nach Italien konstruierte stets eine besondere Mischung aus Sehnsuchtsort und Objekt der Verachtung. Genauer gesagt handelte es sich um eine dialektische Einheit von beiden, da dort drüben schließlich nicht nur Sonne, Meer und gutes Essen, sondern auch ein Lebensstil bewundert wurde, den man sich im protestantischen Geist des Kapitalismus nach Max Weber gerade versagen musste: das Dolce Vita, die Lebens- und Genussfreude, die lockere Haltung gegenüber Verpflichtungen, Terminen, Absprachen. Das, wonach man sich sehnte, und das, was man verachtete, waren also im Grunde genau das Gleiche.

Dabei verhält es sich genau andersherum: In Italien wird – zumindest, was die industrialisierten Sphären anbelangt – mehr, länger und intensiver gearbeitet als in Deutschland. Der Gründungsmythos der italienischen Verfassung besagt sogar, dass das Land auf Arbeit aufgebaut ist. Das ist keine mythische Verbrämung allein, es benennt vielmehr einen harten ökonomischen Fakt: Italien ist ein Land ohne nennenswerte Rohstoffquellen. Die Industrialisierung musste sich daher auf das stützen, was das Land im Überfluss hat: Arbeitskräfte. Billige Arbeitskräfte. Italiens Wirtschaft ist somit mehr als andere auf Austauschzyklen angewiesen. Sogar ohne die EU würden sich Krisen in Italien verstärken und wären Krisen in Italien toxisch für andere. Durch das italienische Wirtschaftswunder (im Norden) veränderte freilich auch dort der Kapitalismus sein Gesicht. Starke Gewerkschaften, gewachsenes Selbstbewusstsein der Arbeiterschicht und ein wachsender Binnenmarkt schufen eine „Arbeiteraristokratie“, die unter anderem erreichte, dass die Löhne automatisch an die Inflation angepasst wurden. Inflation und Arbeitskräfte wiederum schufen in Verbindung mit einer kreativen Design-Wirtschaft – „Made in Italy“ vor allem als ästhetisches Kriterium – Steuerungsmittel, die zu einem gewissen Grad die ursprünglichen Nachteile ausgleichen konnten. Ein Übriges tat die Einrichtung einer „parastaatlichen“ Wirtschaft mit Fiat oder Enel, die man sich nicht im klassischen Sinne als „verstaatlichte“ Wirtschaft vorstellen darf, sondern als Muster politisch-ökonomischer Hybride. Kein Wunder, dass das parastaatliche Wirtschaftssystem seinerseits in die Krise geriet, als sich vor wenigen Jahren herausstellte, dass sich der neue Zweig der Chemiewirtschaft, die EniChem, ausschließlich als gigantische Geldverteilungsmaschine entwickelt hatte: ein Scheinkonzern unter staatlicher Ägide. Fake Economy als Endpunkt der Korruption.

Die relative Stabilität der Ersten Republik verdankte sich dem kleinen Wirtschaftswunder, einschließlich des Tourismus, und vor allem dem System der Partitocrazia, der Herrschaft der Parteien, weit über Parlament und Regierung hinaus. Democrazia Cristiana (DC), die Kommunistische Partei (der PCI) und wechselnde Konstellationen von Sozialisten, Liberalen, Republikanern teilten Gewerkschaften, Medien, soziale Institutionen, kulturelle Einrichtungen und Pädagogik unter sich auf. Es mag paradox erscheinen: Garant der relativen Stabilität war lange Zeit der PCI. Der „historische Kompromiss“ brachte es mit sich, dass die Kommunisten stets das Wohl des Landes über ihre ursprünglichen Forderungen stellten. In den 1970ern bot sich für den über die Grenzen seiner Partei angesehenen Enrico Berlinguer die große rechnerische Chance, mit anderen Parteien der Linken eine „Volksfront“-Regierung zu bilden. Er verzichtete. Denn ihm stand das Beispiel Chile vor Augen: Wenn eine linksdemokratische Regierung wie die Salvador Allendes in wichtigen Schichten der Bevölkerung keinen Rückhalt hat, wird sie Opfer eines Putsches von Militär, Wirtschaft und Kirche. Dass die Gefahr eines Putschs am Ende der Partitocrazia greifbar war, sahen auch weniger vorsichtige Leute. Dennoch blieb das Trauma einer verpassten Chance.

Stattdessen tat die sterbende Partitocrazia noch ihre Schuldigkeit gegenüber dem aufkommenden Neoliberalismus. Seine Regierungszeit nutzte der „Sozialist“ Bettino Craxi zur Selbstbedienung sowie dazu, die erkämpften Rechte der Arbeiter wieder einzukassieren, er schaffte die automatische Lohnanpassung an die Inflationsrate ab.

Dann aber krachte die Partitocrazia zusammen. Ein mutiger Teil der italienischen Justiz tat, was Europapolitiker heute so vollmundig fordern: Er begann einen Kampf gegen Korruption und kriminelle Verflechtungen. Dieser Kampf der „Mani pulite“, der sauberen Hände, kostete eine Reihe von Funktionären nicht nur Stellung und Ansehen, sondern auch das Leben. Das System, der harte, innere Kern der Macht, reagierte zuerst mit etwas hilfloser Gewalt, fand dann aber bald in einer Mischung aus zähem Rollback und Medialisierung eine ideale Taktik. Nebenbei stellte sich heraus, dass das europäische Interesse an einer „sauberen“ italienischen Politik und Wirtschaft keineswegs so ausgeprägt war, wie es die Rhetorik wollte. Wenn die italienische politische Ökonomie überhaupt wettbewerbs- und europafähig war, dann nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Schmutzigkeit. Denn Korruption ist zwar eine destruktive Krankheit, aber stets auch ein Mittel der Verflüssigung. So erschien auf den Trümmern der Parteien-Republik ein mit allen Schmutzwassern gewaschener Medien-Unternehmer: Silvio Berlusconi. Statt Ökonomie und Politik zu säubern, versprach er, die Korruption zu demokratisieren. Den ins Prekariat abgesunkenen Kleinbürgern und Arbeitern, die ihre Organisationsformen wie auch ihr Klassenbewusstsein verlieren mussten, legte er nahe, keine Hemmungen beim Überlebenskampf zu haben. Die Zweite Republik war eine „Telecrazia“, eine Herrschaft eher Marketing-mäßig agierender Zusammenschlüsse durch Medienpräsenz. Berlusconi war der Erste, der zum Programm erklärte, ein Staat sei nicht anders als ein Unternehmen zu führen. Europa ließ ihn gewähren, so wie es andere postdemokratische „Leader“ gewähren ließ.

Mit Matteo Renzi, dem „Technokraten“, sollte die Vernunft in die Politik zurückkehren, doch alles, was geschah, waren weitere Anpassungen an den neoliberalen Zugzwang in Europa; Renzi orientierte sich an den Agenda-Reformen Gerhard Schröders.

Übrigens hatte schon Berlusconi selbst damit angefangen, sehr vage die Europäische Gemeinschaft und nicht ganz so vage die deutsche Hegemonie per Exportüberschuss für einiges von der Misere im eigenen Land verantwortlich zu machen. Die neuen populistischen Bewegungen nahmen das nur zu gern auf. Was nebenbei langsam auffällig fehlte, war eine ordentliche demokratische Legitimation. So begann ein Spiel: Die gewählten Politiker waren „den Europäern“, auch im eigenen Land, nicht demokratisch genug, und die demokratischen Politiker, im Sinne der EU, wurden nicht gewählt. So waren weder die Parteien-Demokratie der Ersten und das Laissez-faire der Zweiten Republik noch Technokraten-Regierungen zu retten. Nun hat Italien eine Regierung, die nicht unbedingt aus großen Demokraten besteht, wohl aber demokratisch legitimiert ist.

Trasformismo, Qualunquismo

Wohin könnte dies führen? Es gibt zwei Schlüsselbegriffe für die Entwicklung der italienischen Nachkriegszeit. Der eine ist der „Trasformismo“ – im Wesentlichen eine Veränderung der Gesellschaft, mit dem Ziel, den harten Kern der Macht (und der Diskurse) zu erhalten. Der andere ist der „Qualunquismo“, ebenso schillernd in seinen Bedeutungen auf einer Linie zwischen dem „Me ne frega“, was man höflich als „Mir doch egal“ übersetzen kann, und einer politischen Bewegung, in der es darum geht, letztlich allen Menschen etwas zu geben, ohne eindeutig Partei zu ergreifen. Der Trasformismo wie der Qualunquismo können sich gleichsam nur als Anti-Politik verwirklichen. Dass sich vor allem die Lega dem Trasformismo verschrieben hat, ist überdeutlich, ihre rassistische Rhetorik bedeckt eine neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik, ebenso, dass sich Lega und Cinque Stelle zu einem zwanghaften Qualunquismo vereinen müssen. Die europäische Rückbindung ist beidem eher hinderlich und taugt am besten zum Sündenbock.

Sieben große Aufgaben stehen für die italienische Politik an: Ausgleich und Entwicklung im Verhältnis von Norden und Süden, eine tiefgehende Entmafiaisierung, die Erfüllung etlicher in der Verfassung vorgegebener Aufgaben von der Bodenreform über die Bildung bis zum Gesundheitswesen, die Wiederaufnahme des Projekts der „sauberen Hände“, eine Reform der Justiz, die Entmachtung einer willkürlich agierenden Bürokratie und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit – damit verbunden eine neue Welle der Auswanderung, nun nicht als billige Arbeitskräfte, sondern als akademischer, kreativer, motivierter Nachwuchs, der im eigenen Land keine Aussichten mehr hat. Es ist die Frage, ob sich unter der neuen Regierung als zweifellos überganghaftem Phänomen diesbezüglich etwas bewegen wird. Demokratie schließlich ist nicht allein das, was sich das Europa der Junckers, Oettingers und Draghis darunter vorstellt, Demokratie entfaltet sich auch auf zwei bedeutenden Nebenwegen: der Dezentralisierung und der Selbstverwaltung. Womöglich wird sich in dieser Richtung tatsächlich etwas verändern. Womöglich aber hat auch hier der harte Kern der bei allen Veränderungen gleich bleibenden Macht etwas dagegen.

Die beiden Erzählungen, die nun gegeneinanderstehen, sind nichts anderes als ideologisch-propagandistischer Nebel: die deutsch-europäische Erzählung von den zu Sparsamkeit und wirtschaftlicher Vernunft unfähigen Italienern, die lieber Dolcefarniente treiben, als die Ärmel hochzukrempeln, sich lustvoll in ihrem Korruptionssumpf suhlen und sich dabei, klar, mit „unserem“ Geld vergnügen. Aber auch die italienisch-populistische Erzählung von einem Europa im deutschen Würgegriff der Austerität, das „uns“ an der Währungskette führt, geht am Kern vorbei. Der deutsche Neomerkantilismus und die Diktatur der schwarzen Null sind an vielem, nicht an allem schuld. Fürst Tancredi wusste von der Negation seiner Einsicht: Wenn die Dinge allzu lange gleich bleiben, dann verändern sie sich gewaltsam.

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