There is no place like home

IMAGINÄRE REISE NACH HOLLYWOOD Elisabeth Bronfen beschreibt die Suche nach der Heimat im Kino

Es ist, geben wir es zu, sehr selten die Suche nach Erkenntnis oder nach der ästhetischen Innovation, was uns ins Kino treibt. Es ist viel eher eine Lust an den cheap thrills, am radikalen Bruch mit der Alltagswirklichkeit. Und es ist eine klammheimliche Suche nach einer Heimat. Es gibt nur wenige Phasen, in denen das Kino diesem Bedürfnis nach eine virtuellen Heimat hemmungslos nachkommt, wie im Hollywood-Film der dreißiger Jahre oder dem Gefühls- und Kitschkino aus der Bundesrepublik nach dem Krieg. Das Kino handelt zugleich von der Suche nach der Heimat wie von ihrem Verfehlen. Deswegen wissen wir auch nicht genau, ob der Satz von Dorothy in The Wizard of Oz, den sie so oft wiederholen muss, bis sie aus dem Zauberreich in ihre wirkliche Heimat zurückkehren kann: "There is no place like home", ein schöner oder ein schrecklicher Satz ist. Es kommt nur auf die Betonung an.

Es gibt keinen Platz wie die Heimat. Die Ambivalenz dieses Satzes ist so etwas wie der Schlüssel zu Elisabeth Bronfens Untersuchungen über die Illusionsspiele in Hollywood, so der Untertitel des Buches, das Heimweh heißt und das Thema anhand einer Anzahl von ausgewählten, zumeist allgemein recht bekannter Hollywood-Produktionen durchführt. Wir begegnen (wieder) John Ford, Alfred Hitchcock und Detlev Sierck/ Douglas Sirk, von neueren Regisseuren David Fincher mit Seven und John Sayles mit (einem meiner Lieblingsfilme der letzten Jahre): The Lone Star. Und wir sehen in Filme hinein, die nach dem "place like home" suchen, und ihn doch nicht (zumindest dauerhaft) finden. Wir sehen sie in Analogie zum Traum in Freuds Blick, als bearbeitete Wunscherfüllung, die gleichwohl immer auch von den Verlusten und vom Mangel erzählen muss, die den Wunsch erzeugt haben.

Eine These der Autorin ist es, dass das Kino deshalb so glaubwürdig und wirksamen sei, eine "so verläßliche Heimat, weil es das eigene Scheitern mit inszeniert". Nur wenig Interesse dagegen zeigt die Autorin an dem zweiten Aspekt des Begriffs, der sich für das Mainstream-Kino eingebürgert hat, die "Traumfabrik". In der Auswahl ihrer Filme hat sie sich beschränkt auf Filme, die längst ein Eigenleben entwickelt haben, die zum "Kult" geworden sind, die sich der mechanischen, ökonomischen und ideologischen Alltagsproduktion in einen metaphysischen Bereich entzogen haben, der nicht zuletzt der kritischen, akademischen und ästhetischen Anerkennung geschuldet ist. Das Spiel ist gefährlich und geht zumindest an der Normalität des Kinos wie der audiovisuellen Produktion, wie der Pop-Kultur als ganzem, vorbei. Dabei kommt es gar nicht mehr darauf an, ob die Autorin des öfteren den Filmen unterstellt, was erst die Geschichte ihrer Rezeption produziert hat, und dass sie in ihrem (sympathischen) interpretatorischen Furor den einzelnen Filmen eine Autonomie unterstellt, die sie in der Kulturindustrie so nicht haben können (John Ford, zum Beispiel, von Sayles ganz zu schweigen, ist nur im Kino und gegen es zugleich zu lesen).

Das Buch versammelt kleine und größere Perlen der Interpretationskunst; was uns das Kunstwerk (oder sein Double in der Traumfabrik) sagt, und zwar insbesondere in Bezug auf die Suche nach der Heimat und ihr verfehlen, das ist anhand dieser ausgewählten Beispiele (Beispiele, die der interpretarischen Verve freilich auch von Herzen entgegenkommen) das ist kaum je so schlüssig und geistreich beschrieben worden. Die Autorin geht darin, sehr klassisch, von einem einheitlichen Bewusstsein des Werkes aus, macht keinen Unterschied zwischen Autor, Werk, Genre, Industrie und Rezeption, sodass uns in Heimweh gleichsam die Filme mit Klugheit aufgeladen zurücksehen. Und der größte Genuss - für Autorin wie Leser - ist ihre liebevolle Rückübersetzung von Film-Passagen in literarische Texte. Dabei freilich geht zum zweiten mal etwas verloren: Nachdem wir das Mechanische, Serielle, Ökonomische der Traumfabrik übergangen haben, übergehen wir nun das spezifisch filmische, das sich nicht vollkommen erschließt, wenn man, zum Beispiel, die Rahmen-Kompositionen in Fords The Searchers als bedeutendes Zeichenspiel widergibt.

Es ist der schwierigste Part der Filmwissenschaft, zu beschreiben, was am Film über den illustrierten Text und über die Imitation einer Sprache hinausgeht. Dies ist vielleicht aber auch eines der Grundfehler jener mittlerweile populären Bücher aus dem Wissenschaftsbereich, die das Kino, und insbesondere die Mythen des Hollywood-Kinos, für sich entdeckt haben - vielleicht gerade weil die anderen Gegenstände, die "Realität", die Geschichte aber auch: "der Text", sich so entschieden entziehen - nämlich dass sie ihr Wissen und ihre Methoden auf den Film projezieren, anstatt den Film auf ihr Wissen und ihre Methoden zu produzieren. Vielleicht hätte sich die Autorin aus dieser Falle schon in der Einleitung befreien können, in dem sie David Finchers Seven in seiner Beziehung zum Morality Play, als "postmodernen" Ausfluss jenes Kreisens um das Bild- und Geschichtenrepertoire deutet. Das hermeneutische Kreisen der Helden, die die Spuren des Bösen immer wieder nur zu sich selbst zurückführen, ist gewiss nicht nur Abbild, sondern auch Fortsetzung einer allgemeinen Verhandlung des Bösen, seiner Aufklärung, seiner Bekämpfung, seiner Verwaltung. Es ist nicht nur allzu kühn, dem Film zu unterstellen, dass er alles von sich selber weiß; das Ausblenden dessen, was durch ihn hindurchfließt, macht aus dem Film indes wieder eine mittelalterliche, eine ikonographische Kunst. Oder, um es anders zu formulieren: Elisabeth Bronfen behandelt das Kino nicht als einen Prozess, sondern wie eine Bibliothek. "Wir kehren", behauptet sie, "in das Archiv des uns vertrauten Erzählkinos zurück, um dort für die widersprüchlichen, unlösbaren und nie eindeutig bestimmbaren Gegebenheiten unserer gelebten Wirklichkeit ein sinnstiftendes Gedankengebäude zu finden". Das mag zwar stimmen, zumal für den wohl angesprochenen, Bücher lesenden, bürgerlichen mehr oder weniger erwachsenen Menschen in einer mitteleuropäischen Stadt, aber selbst bei einer solchen reduzierten Lesart des "wir" können wir nicht umhin zu behaupten: Das genaue Gegenteil ist ebenso wahr. Wir entfliehen dem vertrauten und eindeutigen, der Bibliothek unserer Moral und unserer Kultur, ins Reich der Ambiguität.

Das Kino ist nicht nur aus Doppeldeutigkeiten zusammengsetzt, es ist selber eine doppeldeutige Institution. Das Archiv ist in ständigem Umbau begriffen, und je genauer man es kennt, desto chaotischer muss es einem erscheinen. Deshalb sind Bronfens Lektüren ihrer Filmbeispiele einerseits zumeist ungemein erhellend und anregend, und führen uns andrerseits, was das Wesen des Kinos anbelangt, in die Irre. Sie schmeichelt allzu sehr ihrem Leser und ihrer Leserin, der romantischen, nostalgischen Akademikerseele, die neben anregenden Reflexionen gleich noch ein gutes Stück Absolution erhält. Denn in der Suche nach der virtuellen Heimat, verbirgt sich immer auch das andere, ein virtueller Krieg; das Heimweh ist die Spiegelung der Aggression. Der Trick an einer zugleich meta-politischen und entpolitisierten Darstellung ist ein etwas apodiktisch verwendeter Gedanke von Louis Althusser von der Kongruität von Traum und Ideologie. Es ist richtig, dass der Traum das Material der Ideologie ist, und umgekehrt die Träume ihre Ideologie produzieren. Und nichts gibt diese Spiegelung so perfekt wieder wie das Kino. Aber gerade dies sollte uns nicht den Blick dafür trüben, dass die Traumfabrik Besitzer, der Bilder-Markt eine Struktur, und die Produktion Interessen hat. Wir dürfen dem Kino, dieser prismatischen Kunst, so ziemlich alles unterstellen. Nur nicht Unschuld.

Elisabeth Bronfens Buch ist deshalb so schön, weil es so phantasiereich nicht nur die Suche des Kinos, sondern auch die der Erzählerin nach der ewig verfehlten Heimat beschreibt. Über das Kino zu schreiben ist ja immer auch so etwas wie eine Autobiographie. Deshalb kann man sich in ihrem Buch auf eine ganz ähnliche Weise zuhause fühlen wie in den beschriebenen Filmen (eben auch, weil das eigene Scheitern schon mitinszeniert ist). Man träumt auf hohem Niveau. Und muss, paradoxerweise, beim nächsten Besuch in einem Cinemaxx erschreckt aufwachen.

Elisabeth Bronfen: Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood. Verlag Volk Welt, Berlin 1999, 559 S., 56.- DM

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