Foucault, ein Neoliberaler?!

Essay In einer Debatte wird das Monument des letzten Philosophenkönigs demontiert. Das Meiste lernt man von ihr aber über die (Un-)Möglichkeit linker Kritik in der Gegenwart.

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Michel Foucault ist tot. Und doch lebt er weiter. In den Köpfen zahlloser Menschen, als Monument des widerständigen Denkens. Alle Geistes- und Sozialwissenschaften rezipieren seine Schriften. Ganze akademische Karrieren werden mit der Foucault-Exegese bestritten. Kaum ein Professor, der nicht schon einmal mit einer Begrifflichkeit Foucaults hantiert hätte, um dem kritischen Anspruch der Wissenschaft Genüge zu tun – Diskursanalyse, Disziplinargesellschaft, und so weiter und so weiter. Aber auch außerhalb akademischer Zirkel wird noch an Foucault gedacht. Minderheiten, etwa die LGBT-Bewegung, führen seine theoretischen Waffen in ihren Kampf um Anerkennung. Die ikonischen Bilder, mit kahlem Kopf und Megaphon in der Hand, machen Foucault zum Inbegriff des militanten Intellektuellen schlechthin.

Für das merkwürdige Überleben von „St. Foucault“ (D. Halperin) im Geist der Kritik dürfte der Umstand nicht unerheblich gewesen sein, dass er sich noch zu Lebzeiten einem Gegenstand widmete, der erst nach seinem Tod zum Thema aller kritischen Denker, ja zur Frage unserer Zeit werden sollte: dem Neoliberalismus. In zwei Vorlesungen am Collège de France Ende der 70er Jahre beschrieb Foucault diesen als eine Rationalität des Regierens, die sich im Wissen der klassischen Politischen Ökonomie, im von ihr errichteten Wahrheitsregime des Markts, begründet. Anhand der Lehren des deutschen Ordoliberalismus und der Chicago School (um die Nobelpreisträger Milton Friedman und Gary Becker) stellte Foucault heraus, wie die Strategien der Menschenführung nach Maßgaben des Marktes perfektioniert wurden.

Als Foucault diese sogenannten Gouvernementalitäts-Vorlesungen hielt, war der vollständige Siegeszug des Neoliberalismus – als globale Herrschaftsform und Globalbegriff der Kritik – noch nicht abzusehen. Thatcher und Reagan kamen erst danach ins Amt, der Finanzkapitalismus war noch nicht als solcher erkannt, obwohl maßgebliche Deregulierungs- und Virtualisierungsschritte bereits eingeleitet waren, die Wohlfahrtsstaaten wurden erst in den 90ern von den Sozialdemokraten des Dritten Weges für manche Teile der Bevölkerung zu strafenden Institutionen des Arbeitszwangs umgebaut. Und erst danach begriff auch die gemeine Sozialtheorie den Neoliberalismus als ein Problem (dessen Inhalt aber nie genau bestimmt werden konnte). Da Foucaults Vorlesungen dank Tonbandaufnahmen im Laufe der Nullerjahre in Buchform veröffentlicht werden konnten, wurde er posthum zum zentralen Stichwortgeber der aufkommenden Neoliberalismus-Kritik.

Was Foucault nun aber in verschiedenen Veröffentlichungen vorgeworfen wird: Just als sich der Neoliberalismus in den 1970ern zu formieren begann, habe er dessen Gedankengut nicht nur analysiert, sondern mit ihm sympathisiert. Foucault sei regelrecht vom Neoliberalismus verführt worden und hätte seinen Siegeszug mit ermöglicht. Foucault als Neoliberaler - eine Provokation für alle, die sich, auf den Schultern dieses Monuments des widerständigen Denkens stehend, stets auf der richtigen Seite der Neoliberalismus-Kritik wähnten.

Ambivalenz und Grobschlächtigkeit

Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus wurde in den vergangenen Jahren von einer Reihe von französischsprachigen Monographien ohne größeres Aufsehen thematisiert. Für eine hitzige Debatte sorgte erst ein unscheinbarer Sammelband – oder besser gesagt: ein erfolgreicher PR-Stunt in den sozialen Medien. Einer der Herausgeber des Sammelbands, der bis dahin unbekannte Soziologiedoktorand Daniel Zamora, hatte der Online-Plattform des Jacobin, dem theorieaffinen Zentralorgan der jungen Linken der USA, ein Interview gegeben. Darin warf er Foucault vor, in den 70ern aktiv zur Zerstörung des Wohlfahrtsstaats beigetragen und neoliberale Argumentationen übernommen zu haben. Schlimmer noch: die langfristige Wirkmächtigkeit seines Denkens habe die heutige Linke völlig desorientiert, weshalb Foucault nun endlich kritisiert werden müsse.

Die zugespitzte Intervention provozierte einen Aufschrei unter den Foucault-Experten. Anhand der erweiterten Fassung des Sammelbands, der jetzt in englischer Sprache unter dem Titel „Foucault and Neoliberalism“ erschienen ist, kann sich nun aber jeder davon überzeugen, dass sich die Beiträge der Foucault-Kritiker schlichtester Mittel bedienen – es werden keine bis dato unbekannten Quellen herangezogen, keine kompletten Texte analysiert. Allenfalls einzelne Sätze aus den Vorlesungen oder begleitenden Interviews bekommt man als Indizien für Foucaults Flirt mit dem Neoliberalismus präsentiert – zumeist beschränken sich die Autoren aber darauf, Vermutungen darüber anzustellen, was Foucault mit diesem oder jenem angedeutet haben könnte.

Man fragt sich, wie mit diesen Mitteln einem Denker beigekommen werden soll, dessen diskursanalytisch-distanzierter Stil etwaige normative Urteil über seinen Gegenstand – auch über den Neoliberalismus – verdeckte und mit der gleichen Konsequenz einfache Identifikationen seiner selbst unterlief. Es wäre insofern ein Leichtes darin eine heroische Grobschlächtigkeit zu erkennen, einen mutigen, aber ob seiner Unbeholfenheit doch notwendig ins Leere gehenden Griff nach einem notorisch flüchtigen Denker. In dieser Hinsicht lassen sich die jüngsten Bestrebungen, Foucault als Neoliberalen dingfest zu machen, auch in eine lange Reihe von Charakterisierungsversuchen einsortieren, deren erheiternde Höhepunkte bislang vornehmlich dem bundesrepublikanischen Geistesadel zu verdanken waren (Habermas: „Jungkonservativer!“; Wehler: „Sadomasochist!“, „Rattenfänger für die Postmoderne!“).

Man muss aber zumindest zugestehen: Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus war in der Tat von einigen Ambivalenzen durchzogen. Auch wenn die jüngsten Angriffe mit ihren Mitteln diese Ambivalenzen – und mithin Foucault selbst – nicht zu fassen bekommen, so vermögen sie doch zumindest die Zwistigkeiten der Intellektuellen und die politisch-ökonomischen Konfliktlagen, in die der späte Foucault verwickelt war, scharf zu konturieren. Was der Zamora-Band und die anderen Publikationen zum Thema also in erster Linie leisten, ist einen Beitrag zur Historisierung Foucaults. Er erscheint dadurch mehr als Mensch seiner Zeit und weniger als Monument, auf das sich jeglicher kritische Gedanke zum Neoliberalismus stützen kann.

Foucault und der Umbruch in der französischen Linken

Der Resonanzraum, der dabei für den späten Foucault als maßgeblich herausgestellt wird, ist der Umbruch der Linken im Frankreich der späten 70ern und frühen 80ern – mit einer anhaltenden Wirtschaftskrise als Hintergrundsound sieht das Land dem ersten Wahlsieg der Vereinigung aus Sozialisten und Kommunisten unter Mitterand entgegen. In der Linken heben Positionierungskämpfen an, die Orthodoxie gerät unter Druck, die Nachwehen der 68er-Bewegungen sind wieder spürbar.

Nach Bekanntwerden der Berichte Scholschenizyns über den sowjetischen Gulag formiert sich das massenmediale Phänomen der sogenannten Neuen Philosophen. Sie verurteilen beinahe die gesamte moderne Philosophie, insbesondere natürlich den Marxismus, als krypto-totalitär, verkünden das Ende der Revolution – und Foucault schreibt für den Hauptvertreter dieser These, den 2015 verstorbenen André Glucksmann, eine wohlwollende Rezension.

Es ist nicht die einzige Auseinandersetzung der späten 70er Jahren, in der sich Foucault mit neuen Kräften einlässt. Der Wirtschaftskrisendiskurs gebiert eine Debatte um die Reform des Wohlfahrtsstaats, in der Foucault dafür plädiert diesen künftig als Experimentierfeld zu behandeln. Statt Bürokratie und Ausgaben weiter wachsen zu lassen, solle auf kollektive Selbstverwaltung gesetzt werden. Damit steht er der sogenannten „Zweiten Linken“ nahe, einer sozialliberalen Strömung, die sich gegen den Etatismus der Sozialistischen Partei wendet. Foucault lobt deren Vordenker Pierre Rosanvallon, später wird dieser an seinem Seminar teilnehmen.

Demgemäß gesteht Foucault auch der von Milton Friedman propagierten negativen Einkommenssteuer (kurz: eine Spielart des bedingungslosen Grundeinkommens) in einem Interview gewisse Vorzüge zu – sie sei ein Versuch, nicht mehr zwischen „guten“ und „schlechten“ Armen zu unterscheiden, sondern den Menschen ohne Sanktionsdrohung die Entscheidung zu überlassen, ob sie arbeiten wollen. In den Gouvernementalitäts-Vorlesungen gewinnt diese Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus schließlich auch theoretischen Charakter. Foucault stellt die Sozialpolitik der Chicagoer Ökonomen als eine Regierungsweise dar, die weniger bürokratisch und disziplinierend operiert, weil sie die Freiheit der Individuen als Kalkül einzusetzen weiß. Der von ihnen imaginierte homo oeconomicus ist aber gerade deshalb „in eminenter Weise regierbar“, er wird zum Unternehmer seiner selbst herangezüchtet.

Die Anklage verliert ihren Kronzeugen

Eine wohlwollende Rezension für einen Anti-Marxisten, links-libertäre Positionen in der Auseinandersetzung über den Wohlfahrtsstaat, Interesse für neoliberale Sozialpolitik – während die jetzige Debatte also einen Umbruch in der Linken als den historisch-politischen Kontext des späten Foucaults klärt, wird er aber nicht als Neoliberaler überführt. In den Grundzügen erfährt man sogar kaum Neues. Dass Foucault, nach einem kurzen Intermezzo in der französischen KP, dem Parteimarxismus ablehnend gegenüber stand, dessen dogmatische Staatsfixierung auch in theoretischer Hinsicht überwand, den Wohlfahrtsstaat seit jeher als Disziplinaranstalt empfand und nicht den Kampf der geschundenen Arbeiterklasse, sondern die Marginalisierten zum Ausgangspunkt seines Denkens machte, ist leidlich bekannt. Selbst, dass die Vorlesungen mit einer gewissen Anstrengung als Affirmation des Neoliberalismus gelesen werden können, ist kaum mehr bestreitbar, seit in den 90ern die „Governmentality Studies“ als eine akademische Industrie heranwuchsen, deren Hauptvertreter wie Nikolas Rose oder Peter Miller den Neoliberalismus sogar heute noch gern auf ein „Regieren durch Freiheit“ verkürzen.

Auch wenn die Beweislage nicht überzeugt, kann die Anklage immerhin einen Kronzeugen präsentieren: François Ewald. Er war Foucaults Assistent am Collège de France, als Herausgeber maßgeblich an seiner posthumen Kanonisierung beteiligt – und in den 90ern leistete er dem französischen Arbeitgeberverband treue Dienste bei der Umstrukturierung der Sozialpartnerschaft; als Professor für Versicherungswesen ist er ein Sprachrohr der Privatversicherungen. Man könnte also sagen, François Ewald sei das, was man landläufig als Neoliberalen bezeichnen würde – und zugleich einer der renommiertesten Foucault-Kenner. Er war es auch, der Foucaults Gouvernementalitäts-Vorlesungen bei einer Veranstaltung mit dem Chicagoer Ökonomen Gary Becker eine „Apologie des Neoliberalismus“ nannte und damit der jetzigen Debatte einen Anschub gab. Doch selbst dieser Mann hat jüngst in einem Vortrag eingeräumt, dass die Frage nach Foucaults Identifikation mit dem Neoliberalismus sinnlos sei. Er äußerte den Verdacht, es gehe den Anheizern der Debatte eigentlich um ganz andere Fragen, und plädierte dafür die Vorlesungen in die Gesamtbewegung von Foucaults Denken einzuordnen.

Halb Ausgesprochenes

In der Tat fehlt der jüngsten Kritik an Foucault bei aller Verdichtung des historischen Kontexts diese Berücksichtigung der Gesamtbewegung seines Denkens (Serge Audiers Buch zum Thema bildet hier eine Ausnahme). Sie ist aber nicht nur unerlässlich, um Foucaults ambivalentes Verhältnis zum Neoliberalismus zu begreifen, sondern wirft auch ein anderes Licht zurück auf die jetzige Debatte, auf ihre nur halb ausgesprochenen Fragestellungen.

Es genügt ein Blick auf die Vorträge „Was ist Kritik“ (1978) und „Was ist Aufklärung“ (1983), in denen Foucault letztmals diese Gesamtbewegung selbst erfasste. Darin benannte er den Einsatz seiner eigenen intellektuellen Arbeit – und der modernen Philosophie überhaupt – als die Problematisierung der Aktualität, an der sie Teil hat. Foucault wollte die Geschichte seiner Gegenwart schreiben, ein Narrativ ihrer Heraufkunft erschaffen, um sich von dieser Gegenwart zu entfremden. Demgemäß erzählte er die Geschichte der Moderne als voranschreitende Regierbarmachung des Menschen, eine Geschichte, die durch das unübersichtliche Zusammenspiel von Regierungskünsten und Kritik vorangetrieben wird – denn die Kritik ist sowohl Widersacherin der Regierungskünste, als auch ihre Partnerin. So waren für Foucault gerade die positivistischen, erkenntniskritischen Wissenschaften integraler Bestandteil moderner Regierungskunst, weil sie der Macht eine Rationalität geben, gemeinsam mit ihr eine Wahrheit hervorbringen, mit der Menschen geführt werden - und daher keine originär aufklärerische Haltung mehr einnehmen, die da wäre: nicht regiert werden zu wollen, oder zumindest: nicht dermaßen regiert werden zu wollen.

Den Anspruch einer aufklärerischen Haltung reklamierte Foucault hingegen für sich. Doch in seiner Unentschiedenheit, wie diese zu bestimmen ist – ob anarchistisch, gegen jegliches Regieren, oder liberal, gegen übermäßiges Regieren – liegt letztlich der Grund, warum Foucaults Verhältnis zum Neoliberalismus vielleicht gar nicht zu klären ist. In den Gouvernementalitäts-Vorlesungen beschreibt er den Neoliberalismus als Kunst und Kritik des Regierens, eine Regierungsrationalität, der ein kritisches Prinzip eigen ist: sie begrenzt die Machtausübung des Staates, indem sie den Markt als sein Wahrheitsregime inthronisiert. Unterstellt man ihm – wie sein gesamtes Schaffen nahe legt – eine aufklärerisch-anarchistische Haltung, dann wäre seine Genealogie des Neoliberalismus ein Instrument, um sich auch dieser Regierungsrationalität widersetzen zu können. Foucault könnte aber ebenso sehr im Neoliberalismus selbst eine aufklärerische Haltung erkannt haben, da dieser zumindest das Kriterium erfüllt, das Ausmaß des Regierens zu begrenzen.

Für diese Ambivalenzen interessiert sich die jüngste Foucault-Kritik aber kaum, es spricht sogar vieles dafür, dass es ihr auch gar nicht um Foucaults Werk selbst geht. Ihre Anlass ist die gegenwärtige Dominanz des Neoliberalismus als globale Herrschaftsform, sie versucht die Genese des neoliberalen Denksystems nachzuzeichnen und Foucault eine Rolle in dieser Geschichte zuzuweisen, einer Geschichte, die vor allem auch von der Krise der Linken erzählt. Der Sammelband-Herausgeber Zamora spricht dies klar aus: Er sieht die gegenwärtige Linke mit ihrem theoretischen Werkzeug ohnmächtig dem Neoliberalismus gegenüberstehen; dafür macht er die Vorherrschaft des Foucaultianismus mitverantwortlich; deswegen will er Foucault vom Sockel stoßen.

Die Aktualität der gegenwärtigen Debatte ist nicht die Aktualität Foucaults. Er sah sich noch nicht mit dem hochgradig bürokratischen und digitalisierten Herrschaftssystem des realexistierenden Neoliberalismus konfrontiert, obschon er seine globale Diffusion bereits erahnte und zur Formulierung neuer Regierungsrationalitäten aufrief, auch weil er die Existenz einer sozialistischen Alternative bestritt.

Die jüngste Kritik an Foucault nimmt diese Diskrepanz zwar zur Kenntnis. Aus der Verbindung, die sie zwischen Foucaults Gegenwart und der unsrigen nachzeichnet, zieht sie aber nicht die notwendigen Konsequenzen. Sie imaginiert sich nämlich in einem Verhältnis absoluter Äußerlichkeit zum Neoliberalismus – sie behauptet dem Neoliberalismus (was auch immer er genau ist) feindlich gegenüberzustehen und nicht von ihm infiltriert worden zu sein, sie betrauert den Verlust des Wohlfahrtstaats der 70er Jahre, gerade Zamora will eine Neuausrichtung der heutigen Linken an einer traditionelleren Theoriebildung (und findet sich mit alledem in bester Gesellschaft von Thomas Piketty und Wolfgang Streeck).

Wenn man aber gewillt ist Foucault für einen geschichtlichen Wegbereiter des neoliberalen Siegeszugs zu halten - der die radikale Kritik in den Dienst des Kapitals führte, der statt jeglichem Kollektivismus eine individualistische „Sorge ums sich“ proklamierte, der die große Revolution absagte und sie in eine Vielheit lokaler Kämpfe aufgehen ließ, der mit der Forderung nach stetiger Selbstüberwindung den Optimierungswahn unserer Zeit vorweg nahm - selbst wenn man dazu gewillt ist, müsste man zugestehen, dass eine Kritik, die als Folge die allumfassende Dominanz des Neoliberalismus in der Gegenwart zwar diagnostiziert, aber trotzdem ihre eigene Unabhängigkeit von diesem Herrschaftssystems behauptet, bestenfalls folkloristisch und unwirksam ist, schlimmstenfalls aber ahnungslos an seinem Fortbestehen mitwirkt.

Die Kritik der (deutschen) Gegenwart

Die Debatte verweist also letztlich auf die Frage, wie in der Gegenwart überhaupt effektiv Kritik praktiziert werden kann. Und um dieser Frage nachzugehen, scheint es eher angezeigt mit Foucault weiterzudenken als ihn zu überwinden. Nicht, weil er weiter als Monument des widerständigen Denkens zu behandeln wäre. Sondern weil er Probleme vorweg nahm, die auch heute noch nicht überwunden sind – egal ob er nun Neoliberaler, Kritiker des Neoliberalismus, oder am Ende sogar beides war. Dass die Frage nach der schieren Möglichkeit effektiver Kritik letztlich in eminenter Weise das Politische selbst betrifft, zeigt vielleicht am deutlichsten die deutsche Gegenwart. In seinen Gouvernementalitäts-Vorlesungen widmete Foucault gerade der Bundesrepublik seine besondere Aufmerksamkeit, weil er in ihr den ersten Staat erkannte, dessen Souveränität allein im Ökonomischen begründet war und in dem der Neoliberalismus mithin den unhintergehbaren Horizont des Politischen bildet. Jetzt, im wiedervereinigten, post-faschistischen-post-sozialistischen Deutschland, das, nach ersten Anzeichen in der Euro-Krise, nun in der sogenannten Flüchtlingskrise wieder gänzlich zu sich kommt, scheint sich dieses Bild nur unwesentlich diffiziler zu gestalten. Angesichts einer eskalierenden AfD – gegründet, man vergisst es ja schnell, als Partei neoliberaler Euro-Kritiker, die nur prononcierter aussprachen, was auch die ganz große Koalition, von den Qualitätsmedien über die Regierungsparteien und die Bundesbank bis hin zum Bundesverfassungsgericht, sagte („wenn die Griechen nicht spuren, dann raus mit ihnen aus dem Euro“) – kann man erkennen, dass im ökonomischen Nationalismus des deutschen Neoliberalismus je schon der politische Nationalismus angelegt sein könnte. Aber selbst um die radikale Linke ist es kaum besser bestellt, was ihr Verhältnis zum Neoliberalismus anbelangt: Nachdem sie jahrelang die einzige gesellschaftliche Kraft war, die sich für Geflüchtete interessierte, geht sie nun im Gemenge einer liberalen Willkommenskultur auf und wird gezwungenermaßen von Angela Merkel politisch repräsentiert. Aber hatte sie mit ihren Wahlsprüchen „Keine Grenzen“ und „Alle bleiben“ für die Welt außerhalb ihrer Autonomiezonen je etwas anderes zu bieten als reinsten Liberalismus? Und gibt es für die Geflüchteten, die dann wirklich bleiben, überhaupt eine andere Integrationsperspektive als den neoliberalisierten Arbeitsmarkt, in dem nichts anderes auf sie wartet als prekäre Beschäftigung? Insofern steht auch die radikale Linke am Standort Deutschland immer noch vor der unbearbeiteten Aufgabe, für die vereinzelten neoliberalen Subjektivitäten, die wir alle sind, eine Politik jenseits des Neoliberalismus zu denken – wozu sie aber zuerst ihr eigenes, intimes Verhältnis mit ihm anerkennen müsste. Man sieht: In der Person Foucault traten Widersprüche zu Tage, die heute noch nicht überwunden sind. Über diese Gegenwart hätte auch er viel nachzudenken. Wir täten gut daran, wenn wir das jetzt für ihn übernehmen würden.

Dieser Essay ist auch auf dem Theorieblog erschienen.

Buchpublikationen zum Thema:

Zamora, Daniel & Behrent, Michael C. (2016): Foucault and Neoliberalism, Cambridge: Polity Press

Audier, Serge (2015): Penser le ‚Néolibéralisme‘. Le moment néolibéral, Foucault, et la crise du socialisme, Lormont: Le Bord de l'eau.

de Lagasnerie, Geoffroy (2012): La dernière leçon de Michel Foucault. Sur le néolibéralisme, la théorie et la politique, Paris: Fayard.

Pesteña, José Luis (2011): Foucault, la gauche et la politique, Paris: Textuel.

Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Debatte ist in der Ausgabe Dezember 2015 der Zeitschrift "Foucault Studies" erschienen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Georg Simmerl

Promoviert an der HU Berlin über die Diskursgeschichte transnationaler Wirtschaftskrisen in der deutschen Öffentlichkeit.

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