Im geräumigen Warteraum der Rehabilitationsklinik Cirec sitzt Jair Montaña Mendéz und wartet auf seinen Termin. Unüblich für kolumbianische Gepflogenheiten wird der 44-Jährige an diesem Morgen Punkt acht Uhr aufgerufen. Mit einem Rucksack beladen humpelt der kleine, sportliche Mann auf eine Krücke gestützt zur Behandlung. Vor sechs Jahren wurde Jair Opfer einer Landmine und verlor sein linkes Bein. Damit gehört er zu den über 11.000 Minenopfern in Kolumbien seit 1990. Nur in Afghanistan und einst in Kambodscha fielen mehr Menschen derartigen Sprengfallen zum Opfer.
Am Tag zuvor ist Montaña zehn Stunden im Bus nach Bogotá unterwegs gewesen. Außer dem Ticket für die Anreise kann er für seinen Aufenthalt in der Hauptstadt auf keine finanzielle Hilfe zurückgreifen. Er muss gegen vier Uhr morgens aufstehen, um über mehrere Buslinien aus dem Süden der Stadt, wo er bei Verwandten untergekommen ist, in die im Norden gelegene Klinik zu gelangen. Die Fahrt dauert knapp drei Stunden. Jair erzählt, dass er häufig wegen des überlasteten öffentlichen Nahverkehrs in der Millionenmetropole während der gesamten Fahrt stehen müsse.
Wie sich sein Leben in den letzten sechs Jahren verändert hat, das ist exemplarisch für das Leiden so vieler Kolumbianer. Der Bürgerkrieg zwischen den Guerilla-Kämpfern der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und der Regierungsarmee dauerte bis zum Friedensschluss im Jahr 2016 mehr als 50 Jahre. Nach UN-Angaben gab es in dieser Zeit über sieben Millionen Vertriebene und etwa 220.000 Todesopfer.
Auch Jair Montaña blieb es nicht erspart, mit seiner Familie zum Flüchtling im eigenen Land zu werden. 2009 zog der Vater dreier Söhne aus einem Dorf im südöstlich der Anden gelegenen Department Meta nach Bogotá. Er versuchte, die Seinen mit einem Job im Straßenbau über die Runden zu bringen, was misslang. So musste er wieder zurück in die Heimatprovinz Huila im Südwesten. Dort wollte er sich von mühsam zusammengespartem Geld ein Stück Land kaufen, um davon mit der Familie leben zu können. Auf dem Weg zur Besichtigung der Latifundie geschah das Unfassbare. „Es war der 20. Oktober 2012 um zehn Uhr morgens“, erinnert sich Jair an seinen Schicksalstag. Unter ihm explodierte eine im Boden vergrabene Landmine, die ihn und eine Frau in seiner Begleitung schwer verletzte. Im Schnitt endet einer von fünf solchen Vorfällen tödlich. Zu Verstümmelungen kommt es fast immer.
Jair wurde zunächst notdürftig versorgt und dann in einem Helikopter ins Hospital der Stadt Neiva gebracht. „Als ich aufwachte, hatten sie bereits mein Bein amputiert.“ Es folgten mehrere Operationen, ein halbes Jahr später bekam er die erste Prothese. Er habe nie erfahren, wer für „seine“ Mine verantwortlich gewesen sei, ob die Guerilla, rechte Paramilitärs oder die Armee. Ob damit das Passieren einer Straße verhindert oder ein Cocafeld vor dem Zugriff des Militärs geschützt werden sollte.
Während Jair in der Klinik Cirec darauf wartet, ein weiteres Mal aufgerufen zu werden, zieht er seinen linken Schuh aus und zeigt seine Prothese. Die ist erkennbar lädiert und zeigt mehrere Risse. „Die Lebensdauer einer solchen Gehhilfe liegt eigentlich bei etwa fünf Jahren“, meint Jair. „Doch ist die Qualität der Prothesen von EPS so schlecht, dass schneller Ersatz gebraucht wird.“ Bei den EPS handelte es sich um sogenannte „Gesundheitsfördernde Einrichtungen“, womit das privatwirtschaftlich organisierte Krankenkassensystem Kolumbiens gemeint ist. Wegen seines besonderen Bedarfs ist Jair über eine subventionierte EPS-Kasse versichert.
Wie soll er Viehzüchter sein?
„Die Qualität bei der Behandlung von Patienten, die von staatlich gestützten Leistungen abhängig sind, ist leider deutlich schlechter als bei den regulär Versicherten“, erklärt Lina Herrera Umaña für die Stiftung Cirec. Die junge Frau sitzt in einem modern ausgestatteten Besprechungsraum und rattert einen auswendig gelernten Kurzvortrag über ihre gemeinnützige Organisation herunter. Cirec sei 1976 gegründet worden und arbeite mit Menschen, die unter körperlichen oder neurologischen Behinderungen leiden. Ein Teil der Arbeit bestehe darin, Minenopfer zu unterstützen. Diese erhielten Behandlungen durch Orthopäden und bekämen je nach Bedarf Prothesen, Orthesen oder auch Rollstühle. Pro Jahr kümmere sich ihre Stiftung im Schnitt um ungefähr 80 Kriegsversehrte.
Obwohl er mit seiner Prothese wieder einigermaßen gehen kann, ist für Jair nichts mehr so, wie es einst war. „Auch wenn mich andere wieder laufen und lachen sehen, bin ich nicht mehr derselbe.“ Seine Stimme schwankt, der Blick schweift ab. Er habe nicht nur sein linkes Bein, sagt er, sondern auch 30 Prozent seines Sehvermögens verloren. „Die Regierung bemüht sich nicht wirklich um uns. Wäre ich als Soldat im Gefecht verletzt worden, bekäme ich wenigstens eine anständige Pension.“ 40 Prozent der kolumbianischen Minenopfer sind Zivilisten, die in der falschen Gegend zu Hause waren, den falschen Weg einschlugen, den einen falschen Schritt machten.
Erst bei einem Behinderungsgrad von 40 Prozent haben die Opfer den Anspruch auf eine monatlich zu zahlende Entschädigung. Jair wurde eine um 35 Prozent eingeschränkte Erwerbsfähigkeit attestiert. Nur was soll er als Viehzüchter mit seinem amputierten Bein anfangen, wenn ihn die Prothese daran hindert, harte körperliche Arbeit zu leisten? „Ich habe einfach keine Anstellung mehr gefunden. Auch auf einer Kaffeeplantage komme ich in der Erntezeit nicht als Pflücker unter, weil die Prothese nur mit 30 Kilo zusätzlichem Gewicht belasten werden darf ...“
Für ein Wrack gehalten zu werden, das habe ihn völlig aus der Bahn geworfen. Im ersten Jahr nach der Katastrophe habe er fast täglich getrunken. „Es war schlimm, mit meinen Söhnen nicht mehr Fußball spielen zu können.“ Nur durch den Beistand von Nachbarn und Bekannten habe sich die Familie einigermaßen über Wasser gehalten. „Es gab Tage, an denen wir nicht wussten, an welche Tür wir klopfen sollten, um uns das Essen für die nächste Zeit zu erbetteln.“
Im vergangenen Jahr wurde Jair und seiner Familie immerhin eine einmalige Entschädigungszahlung zuteil. Umgerechnet etwa 8.000 Euro bekam er von der Behörde für Bürgerkriegsopfer, aber dies auch nur, weil er hartnäckig blieb und sich dadurch lange verschlossene Türen öffnen ließen. Von diesem Geld kaufte er ein wenig Land, auf dem seine Familie nun Kaffee anbauen kann. Aber das sei nur allzu oft ein verzweifelter Kampf gegen widrige Umstände. Da ihm häufig das Geld für Dünger fehle, müsse er Chemikalien einsetzen, mit denen die Fruchtbarkeit des Bodens zerstört werde. Deshalb sei er dankbar, dass ihn die Kolumbianische Kampagne gegen Landminen dabei unterstütze, einen Teil der nötigen Ausrüstung für die Landarbeit anzuschaffen.
Im Zentrum von Bogotá sitzt Camilo Serna, der Co-Direktor dieser Nichtregierungsorganisation, im 13. Stock eines Bürogebäudes mit Blick über die schier endlos wirkende Metropole. Für die Kampagne arbeiten etwa 25 Mitarbeiter. Serna berichtet, man sei als Bürgerinitiative mit dem Ziel gestartet, die Regierung zur Ratifizierung der Ottawa-Konvention zu bewegen – dem 1997 vereinbarten, völkerrechtlich bindenden Vertrag zum Verbot von Antipersonenminen. Inzwischen wurde die Konvention von 164 Staaten ratifiziert, von Kolumbien im Jahr 2000. Seit demselben Jahr habe die Kampagne den Status einer NGO und unterhalte ein Netzwerk lokaler Koordinatoren in 22 der 31 minenverseuchten Departments.
Die Kampagne begleitet Fälle wie die von Jair, indem sie den Betroffenen dabei hilft, ihre Rechte einzuklagen und ins Erwerbsleben zurückzufinden. Vor Ort arbeiten Teams daran, die Landbevölkerung über die Gefahren verminten Geländes aufzuklären. Seit Abschluss des Friedensvertrags mit den FARC im November 2016 beteiligt sich die Kampagne zudem beim Entschärfen von Minen. „Wir sind die erste zivilgesellschaftliche Organisation Kolumbiens, die das wagt“, so Camilo Serna stolz. Unterstützt werde man von Geldgebern in den USA, in Norwegen und der Europäischen Union. „Diese Hilfen sind für uns essenziell.“
Die Regierung will bis 2021 sämtliche Landminen entfernt haben. In den vergangenen beiden Jahren soll es gelungen sein, das Land von gut einem Drittel der vergrabenen Sprengkörper zu befreien. Auch die Zahl der Minenopfer sei signifikant zurückgegangen, heißt es. Fielen 2006 1.232 Menschen den Sprengminen zum Opfer, waren es zehn Jahre später noch 89. Vermutlich hätte sich der Friedensprozess bei allen sonstigen Unwägbarkeiten schnell erledigt, würde gegen dieses fatale Erbe des Bürgerkrieges nichts unternommen. Im Moment ist noch fraglich, wie der am 17. Juni gewählte ultrarechte Präsident Iván Duque von der Partei Centro Democrático mit dieser Hinterlassenschaft verfährt. Er hatte sich im Wahlkampf wiederholt skeptisch über das Abkommens mit den FARC und die noch laufenden Friedensgespräche mit der zweiten Guerillaorganisation ELN gezeigt. Und solange in manchen Regionen noch gekämpft wird, besteht die Gefahr, dass weiterhin Minen verlegt werden.
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