Die Bedeutung des Gedenkens an die dramatischen Ereignisse vom 11. September 2001 in den USA und in Europa steht im Gegensatz zu der geringen Aufmerksamkeit, die sie im Bewusstsein der arabischen Völker erfahren – aber wahrscheinlich auch der, die sie bei den Völkern Lateinamerikas, in Asien oder Afrika hervorrufen. Die Attentate vom 11. September haben außerhalb der sogenannten westlichen Staaten zumindest ambivalente Reaktionen hervorgerufen, die gelegentlich eine offene oder unterschwellige Zufriedenheit über diese „Ohrfeige“, die die „überhebliche“ amerikanische Großmacht getroffen hat, zum Ausdruck bringen.
Für einen jungen Araber stellen diese Ereignisse den Vorwand dar, unter dem die Vereinigten Staaten an der Seite ihrer europäischen Verbündeten, den Mitgliedern der NATO, zerstörerische Kriege im Irak und in Afghanistan führten. Diese Kriege haben den von unterschiedlichen „dschihadistischen“ und takfiristischen Bewegungen entwickelten Thesen bedauerlicherweise einen gewissen Nährboden verschafft. Ein Teil der Muslime weltweit hat in Osama bin Laden einen „Racheengel“ gesehen, der die Schmach tilgt, die dem Orient durch den Okzident seit dem Beginn der Beherrschung der muslimischen Gesellschaften durch die „christlich“ abendländischen Mächte zugeführt wurde.
Dieser Generation junger Araber hat keine Erinnerung an das Bündnis, das zwischen den Vereinigten Staaten, Saudi-Arabien und Pakistan geschaffen wurde. Ein Bündnis, das der Ausbildung damals junger Araber diente, um sie gegen die sowjetische Armee, die 1980 in Afghanistan eingefallen war, einzusetzen; ein Bündnis, das Osama bin Laden hervorbrachte und weitere von ihm inspirierte ideologische und gewaltbereite Bewegungen. Nein, man erinnert ausschließlich eine amerikanische Politik, die muslimischen – arabischen und nicht arabischen – Regimes ihre geopolitischen, militärischen Interessen aufgezwungen und die kolonisatorischen Eroberungen des Staates Israel unterstützt hat.
Gegen Moskau
Für einen älteren Libanesen meiner Generation sind das Phänomen bin Laden und seine Nachahmer das Ergebnis der amerikanischen Diplomatie im Mittleren Osten nach dem Zweiten Weltkrieg. Eher als im 11. September 2001 neigen die arabischen politischen Analysten meiner Generation dazu, den Beginn des Unglücks in der Machtergreifung der Neokonservativen in den USA, durch die Präsidentschaftswahl im Jahr zuvor, und ihrer aggressiven Ideologie unter dem Vorwand eines friedenstiftenden Idealismus für die Welt zu sehen.
Während die Vereinigten Staaten in der arabischen Welt traditionell als eine Befreiungsmacht gegen den erdrückenden französisch-britischen Kolonialismus gesehen wurden, haben sie sich im Laufe der Jahre zu einer Macht entwickelt, die sich an die Stelle der europäischen Vorherrschaft über den Mittleren Osten geschoben hat.
Seit dem 14-Punkte-Programm von Präsident Wilson, das anlässlich des Ersten Weltkrieges erstellt wurde, und die allergrößten Hoffnungen bei den Bevölkerungen der Länder ausgelöst hatte, die unter europäischer Kolonialherrschaft standen, wurden die Vereinigten Staaten als eine wohltätige Macht wahrgenommen. Zahlreiche arabische Persönlichkeiten setzten sich dafür ein, ihnen ein Mandat auszusprechen, um den arabischen Entitäten, die aus der Auflösung des osmanischen Reiches hervorgegangen waren, auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit zu helfen. Anschließend, nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte die feste Position, die der amerikanische Präsident Eisenhower im Rahmen des Treffens der dreifachen Anfeindung durch Israel, Großbritannien und Frankreich gegen Ägypten im Oktober 1956 einnahm, zum Erhalt des Ansehens der USA beigetragen. Es wurde ebenfalls durch die Positionen des Präsidenten John F. Kennedy zugunsten der Unabhängigkeit Algeriens gestärkt.
Die Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus im Nahen Osten war es wohl, die zu einer radikalen Politik der USA gegenüber Regimen führten, die unter einem Einfluss von Moskau standen. Das betraf arabische Länder ebenso wie andere Länder des Mittleren Ostens oder der dritten Welt und der Einfluss konnte sich durch die Entwicklung lokaler kommunistischer Parteien manifestieren oder durch eine nicht nach der amerikanischen Linie ausgerichtete Außenpolitik, die dem kommunistischen Einfluss Raum ließ.
Destabilisierung
Nach der Niederlage der Armeen Ägyptens, Syriens und Jordanien im Juni 1967 gegen Israel nahmen diese Spannungen mehr und mehr zu. Damals besetzte Israel den ägyptischen Sinai, das Westjordanland, den arabischen Teils Jerusalem und von Gaza sowie die syrischen Golanhöhen, 1978 dann fällt Israel in einen großen Teil des Süd-Libanons ein, den es bis 2000 besetzen wird. 1982 vollendet die israelische Armee die Invasion von 1978 und kommt bis Beirut, der Hauptstadt des Libanon.
Die Vereinigten Staaten unterstützen die Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen Israel und dem Libanon. Aber diese Initiative bringt eine neue blutige Destabilisierung des Libanon mit sich, die bis 1990 andauern wird. Israel verlässt erst im Jahr 2000 den Libanon (mit Ausnahme der Schebaa-Farmen, ein wasserreiches Gebiet); die Armee kann die Verluste nicht länger hinnehmen, die ihnen die Kämpfer der Hisbollah zufügt. Die Hisbollah bemüht sich anschließend um die Freilassung der libanesischen Gefangenen, die in den israelischen Gefängnissen sitzen, und Deutschland dient als Vermittler bei den indirekt geführten Verhandlungen.
Allerdings provoziert die materielle und militärische Hilfe, die die Hisbollah vom vermittelnden Syrieren erhält, zunehmend den Zorn Washingtons. Auch die europäischen Verbündeten der Vereinigten Staaten, von denen sich viele für die Invasionen im Irak und in Afghanistan zusammengeschlossen haben, bringen sich auf Linie. Nach der kurzen Episode der „Rebellion“ Deutschlands, Frankreichs und Belgiens gegen die Entscheidung Washingtons, in den Irak einzufallen, folgt die europäische Politik den amerikanischen Forderungen gegen den islamistischen Terrorismus. Von nun an verschaffen sich die Europäer kein Gehör mehr, wenn es um die Rechte der Palästinenser geht. (Wie das noch der Fall war bei der Verurteilung der israelischen Politik durch General de Gaulle oder bei der „Erklärung von Venedig“, als die Europäischen Gemeinschaft das „Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und“ einforderte).
2006 – während eines Zwischenfalls an der Grenze zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee – leitet Israel einen massiven Angriff auf den Süden des Libanon und die südlichen Vorstädte Beiruts ein, wo sich die Bastionen der Hisbollah befinden. Die USA und die europäischen Staaten stützen die Aktion und scheinen entschlossen, die militärische Macht der Hisbollah ein für allemal brechen zu wollen. Ganz im Sinne der neokonservativen amerikanischen Politik gibt sich Condoleeza Rice, die amerikanische Außerministerin, damit zufrieden, in naiver und gleichzeitig zynischer Art und Weise zu erklären, dass die Leiden der libanesischen Zivilbevölkerung durch den israelischen Angriff die Geburtswehen für einen „Neuen Mittleren Osten“ seien.
Die neue amerikanische Regierung hat sich, seit dem Beginn der Präsidentschaft George W. Bushs tatsächlich um eine Neuaufteilung des gesamten Mittleren Osten bemüht, dessen Ausgangspunkt die Invasion des Irak sein sollte. Es gehe darum, die neue Gefahr eines „Islamo-Faschismus“ zu beseitigen, den bin Laden und seine Organisation darstellen; in Bushs Augen geht von ihm keine geringere Gefahr aus als von den beiden großen totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus. Auf der anderen Seite will man die Diktaturen des Mittleren Osten niederschlagen – obwohl diese von den USA unterstützt werden –, um die Gesellschaften des Mittleren Osten am Wind der demokratischen Freiheit teilhaben zu lassen, der seit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts weht. Syrien, der Iran, – besonders seit das Land bekannt gegeben hat, Atomwaffen zu entwickeln – sowie Hisbollah und Hamas werden zu den Verantwortlichen für das Scheitern der amerikanischen Pläne der Neuordnung des Mittleren Osten erklärt.
Die Obsession
Die Zerstörung der syrisch-iranischen Achse im Mittleren Osten und damit die Unterbindung der Unterstützung, die sie Hisbollah und Hamas gibt, ist somit zur Hauptkonstante, wenn nicht zu einer Obsession allen europäischen und amerikanischen Handelns in der Region geworden. Ebenso setzt sich die westliche Politik für die moralische Rechtfertigung des israelischen Vorgehens ein, obwohl es ganz im Gegensatz zum internationalen Recht steht (Bau der Trennmauer im Westjordanland, Weiterführung der Besiedlungen, Blockade des Gaza-Streifens seit 2006, übertriebene Vergeltungsmaßnahmen bezüglich der Operationen der Widerstandsbewegungen).
Außerdem kann man sich die Frage stellen, ob wir uns auf der Schwelle zu einem neuen Weltkrieg befinden, dessen Funken vom Mittleren Osten aus zündet, entweder von Israel und den besetzten Gebieten aus oder vom Iran; oder seit dem Frühjahr 2011 von den großen politischen Veränderungen, die wichtige Länder wie Ägypten und Syrien erleben. In diesem Zusammenhang kann man verstehen, dass die Ereignisse des 11. September 2001 von dieser Seite des Mittelmeers aus als der Ausgangspunkt für neue Destabilisierungen und Spannungen in der Region und für immer massivere Eingriffe in die arabischen Gesellschaften und denen des Mittleren Ostens gesehen werden, die von den westlichen Mächten ausgehen. Wird der neue revolutionäre Zyklus, der sich in der arabischen Welt im Januar 2011 mit dem Sturz der ägyptischen und tunesischen Diktatur geöffnet hat, die Spannungen und die Missverständnisse zwischen Orient und Okzident dauerhaft lösen? Oder wird er neue Konfrontationselemente und erneute Interventionen der westlichen Mächte in diesem Teil der Welt mit sich bringen, so wie es bereits der Fall zu sein scheint?
Das ist die entscheidende Frage, die sich heute stellt. Darum müssen sich die Menschen guten Willens auf beiden Seiten des Mittelmeeres dafür einsetzen, die Passionen zu beenden, die die arabische Welt zerreißen oder die abendländischen Interventionen leiten, die sich seit der Zeit der Expeditionen des Napoleon Bonaparte in Ägypten am Ende des 18. Jahrhunderts willkürlich den jeweiligen Umständen anpassen.
Georges Corm, Historiker, Professor an der Saint-Joseph-Universität in Beirut, Autor zahlreicher Werke zur jüngsten Geschichte des Nahens Ostens und der Ost-West-Beziehungen. Hauptwerk: Le Proche Orient éclaté. De suez à linvasion de lIrak 1956-2010. Auf Deutsch liegt vor: Missverständnis Orient. Die islamische Kultur und Europa
Dieser Text ist Teil der Freitag-Sonderausgabe 9/11, die der Perspektive der arabisch-muslimischen Welt auf die Terroranschläge und ihre Folgen gewidmet ist. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie zum Editorial, das einen ausführlichen Einblick in das Projekt vermittelt. In den kommenden Tagen werden dort die weiteren Texte der Sonderausgabe verlinkt
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