Brutstätten der Gedanken

NATION STATT SOZIALES Mit der Auflösung der Saint-Simon-Gesellschaft kündigt sich in Frankreich ein Wechsel der intellektuellen Leitthemen an

Die Nachricht war den Pariser Zeitungen wenig Aufhebens wert: Aus freien Stücken hatte kürzlich die "Saint-Simon-Stiftung" ihre Auflösung beschlossen. Welcher Art war diese Stiftung? Der Name trachtete offensichtlich, den Zweck des Zusammenschlusses zu verwedeln. Hatte es sich vielleicht um einen Geheimbund hochmögender Industriekapitäne gehandelt, die in wöchentlichen Sitzungen Zukunftsprognosen des Landes überdachten und damit zu einem selbstbeauftragten brain trust für Politiker und Regierungsmitglieder? Wer den Mann auf der Straße in Paris danach befragte, erhielt mit Sicherheit keine Antwort.

Eingeweihte erblickten dahinter "Königsmacher" auf dem Feld der Gedanken, die ihren Einfluss unsichtbar zu machen verstanden. Bekannt wurde Emmanuel Todds (eines Leitartiklers und Politschriftstellers) Diagnose der "sozialen Kluft", die sich durch die französische Gesellschaft ziehe. Präsidentschaftskandidat Chirac machte sich seinerzeit diese Formel zu eigen und versprach, nach der Wahl auf ihre Schließung hinzuarbeiten. Als die Presse die verschattete Herkunft der Formel aufdeckte, zeichnete sich einen Augenblick lang die Saint-Simon-Stiftung als Projektion in der Öffentlichkeit ab.

In der Nähe der "Hochschule der Sozialwissenschaften" im 6. Pariser Arrondissement gelegen, trafen sich in ihrem Versammlungslokal seit dem Jahr 1982 leitende Persönlichkeiten der Industrie etwa Philippe Vianney oder Michel Albert mit einflussreichen Gewerkschaftlern beispielsweise Pierre Rosanvallon. Dessen Laufbahn ist im übrigen kennzeichnend für das Prinzip der Grenzüberschreitung, der die Stiftung in erster Linie zuneigte. Rosanvallon hat bis heute ein maßgebliches Wort in der zweitstärksten französischen Gewerkschaft CFDT und hält gleichzeitig politwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität. In ihm reichen sich theoretische Überlegungen und Praxisnähe die Hand.

Dies ist denn auch das Französische an dem Club, der sich selbst als "Gegenströmung gegen den intellektuellen main stream" bezeichnete: die Durchlässigkeit der Disziplingrenzen, das Überspringen abschottenden Spezialistendenkens. Die Erfahrung von Unternehmensführern, zu denen Arbeitgeber wie Francois Mer (Stahlwerke Usinor) oder Antoine Riboud (Glasherstellung beispielsweise für die Louvre-Pyramide) zählen, hoher Beamter wie Michel Albert, oder Leitartikler vom Schlag eines Jean Daniel (Nouvel observateur") oder Serge July (Libération) sollen ins Gespräch kommen und sich dadurch vertiefen. Gegenseitige Reibung der Auffassungen verfeinert das Denken, so lautete die Maxime.

Absolventen der Eliteschulen, an denen im Land kein Mangel ist, wird häufig Unkenntnis der wirtschaftlichen Realität vorgeworfen. Wer den Weg von der Hochburg der Abstraktion, der "Ecole normale" (einer napoleonischen Eliteschule), in die Ökonomie einschlägt, muss sich geistig neu zurüsten. Das setzten sich die "Saint-Simonier" zum Ziel. Die Welt der Arbeit und diejenige des Denkens verlangen seit langem nach dem Brückenschlag. Aus dieser Überlegung heraus setzte der Großindustrielle Roger Fouroux den Historiker Francois Furet, dessen Arbeiten über die französische Revolution auch im Ausland Beachtung fanden, in den Aufsichtsrat der "Générale d'entreprise", einer großen Straßenbaufirma. Dahinter stand die Absicht, ihm Verantwortungsethik anhand der Praxis nahe zu bringen.

Jacques Juillard schreibt jede Woche im Nouvel observateur einen gesellschaftspolitischen Kommentar; er gilt heute als der Vordenker jener "zweiten Linken", die in den letzten Parlamentswahlen in Frankreich an die Macht gelangte. "Die Stiftungsmitglieder teilten im großen Ganzen eine liberale Weltanschauung nach englischem Muster", mit diesen Worten deutet er auf die produktivistische Geisteshaltung dieser Gemeinschaft hin.

Gleichzeitig gehörte zu den Themen, die in diesem gemischten Kreis erörtert wurden, die "exception culturelle", die französische Politiker seit Jahr und Tag als "Gegengift" gegen die "Globalisierung" in den internationalen Verhandlungen vorbringen, erst kürzlich wieder anlässlich der Neustrukturierung der Welthandelsorganisation. Die Saint-Simonier definierten damit die Auffassung, dass Kulturwerte sowie ihre Umsetzung in die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht blossem Wettbewerbsdenken unterliegen. Die Stellungnahme eines Diplomaten in diesem Kreis erwies sich als besonders triftig. Er unterstrich, dass menschliche Handlung um einen Mittelpunkt kreist und der ist kulturell bedingt. "Wer Kultur auf wirtschaftlichen Einfluss allein reduziert, das heißt auf Marktanteile sowie Massenprodukte, dem muss entgegengehalten werden, dass sie in erster Linie ein Träger der Identität ist und ein Leitseil kommender Entwicklung."

Bei diesem Erfahrungsaustausch konnte das Denken der Intellektuellen auf die Wertsetzungen der Industriellen direkt einwirken und damit den Handschlag zwischen den Sphären befördern. Was die Beeinflussung rechter und linker Denkweisen innerhalb der staatlichen Ideologien anbelangt, trifft die Bemerkung des Chefredakteurs des Observateur, Jean Daniel, wohl ins Schwarze: "Der Saint-Simonismus wurzelte in der Überzeugung, dass die Entkrampfung der französischen Gesellschaft aus der Bejahung des Kapitalismus hervorgehen wird, der von links gezügelt und moralisiert wird."

Die "Linke der Linken", die sich in der Folge unter anderem der Europa-Wahlen in Frankreich artikuliert und für die ein Pierre Bourdieu als Bahnbrecher wirkt, hat eine Erklärung für die Aufhebung dieses think tank. Eine "weiche Linke" habe sich aufgelöst, kommentiert Emmanuel Todd, ehemals Gründungsvater von "Saint-Simon"; ihre Wirtschaftslehre sei heutzutage rückwärtsgewandt, weil kompromissbereit im Blick auf einzelne Unternehmen und nicht auf die sozialen Tendenzen. Ein anderer Denk-Club, die "Marc Bloch-Stiftung", rückt ins Rampenlicht. Er verficht die Anschauung, nicht mehr die sozialen Fragen nehmen im Europa von heute den ersten Platz ein, es sei vielmehr die erneuerte Wirkungskraft von Begriffen wie Staat oder Nation im europäischen Zusammenhang, die der öffentlichen Diskussion den Stempel aufdrücke. Damit taucht französischerseits in der Debatte um eine neue Einheit unter europäischer Flagge der überlieferte Standpunkt der Staaten wieder auf, die auf das Überdauern ihrer souveränen Rechte pochen.

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