Eine Tradition des französischen Geistesleben ist in diesen Wochen des Wahlkampfes ohne viel Aufhebens zu Bruch gegangen, das Eingreifen der Intellektuellen in die politische Arena. Mehr als hundertjährig ist die Gewohnheit dieses Landes, dass die Schriftsteller sich einmischen "in das, was sie nichts angeht". Diese Definition des schwer zu umreißenden Begriffs stammt von Jean-Paul Sartre, und nicht nur in den Schulbüchern Frankreichs ist das Paradebeispiel dafür verzeichnet, es lautet "Ich klage an" (J´accuse) und stammt von Emile Zola. Die Dreyfus-Affäre wühlte in jenen letzten Jahren des 19. Jahrhunderts Frankreich und das übrige Europa zutiefst auf. Der Romanschriftsteller, Verkörperer eines im Jahrhundert besonders prestigevollen Genre
nres, trat als moralische Instanz auf den Plan. Dass ein jedes seiner Werke skandalträchtig war, weil die darin beobachtete gesellschaftliche Realität sich als zukunftsreich erwies, verlieh ihm Glaubwürdigkeit. Mit seiner Stellungnahme baute der Schriftsteller auf diese Weise eine Brücke von der Gegenwart in die Zukunft. Die Voraussetzung für diese hochbewertete Rolle als Federführer der Nation liegt einerseits in der typisch französischen Wertschätzung der Sprache als Garant eines Universalismus, der sich im Wort legitimiert. Wenn laut Mallarmé die Würde des Schreibens darauf abzielt, "den Worten des Stammes einen reineren Sinn zu geben", dann trägt unterschwellig der Schriftsteller bei zu einer Klärung der Gedanken in der Gesellschaft, die Gegenwart und Zukunft umfassen. Dies wird folglich zur Spezialität des Nicht-Spezialisten, als der sich der Schriftsteller etabliert. Das war bislang auch der Grund, weswegen weniger die Philosophen oder Universitätslehrer unter der Etikette "Intellektueller" in die wichtigen politischen Auseinandersetzungen eingriffen. Über Macht, aber ohne konkrete Machtmittel verfügt mithin der Intellektuelle, was Paul Valéry in seiner Definition zum Ausdruck bringt: "Der Beruf des Intellektuellen besteht darin, die Zeichen, Namen oder Symbole aller Dinge aufzuwühlen ohne das Gegengewicht realer Taten." Bis in die achtziger Jahre mochte es damit seine Richtigkeit haben. Fürs erste unbemerkt stellte sich dann eine Änderung ein. Es kamen die neuen Kommunikationsmittel auf, die das Prestige der Worte ausdünnten. Der Universalismus der Werte aus zurückliegender Zeit sowie die antiglobalistische Kampfstellung weichten die Hochschätzung der Werte auf, für die sich die Intellektuellen einsetzten. Im Namen einer allgemeingültigen Moral in der Gesellschaft zu sprechen, begann altväterlich zu erscheinen. Die vorbildliche Handhabung der Muttersprache wurde mit kurzem Kopfnicken beantwortet, brachte aber keinen ideellen Mehrwert. Die Abfolge der Zeiten zu verstehen, daraus Mahnungen für die Gegenwart zu entnehmen, erschien bar jedes Gewinns. Sollte eine Polemik vom Zaun gebrochen werden, dann bedurfte sie keiner Verankerung in der Vergangenheit mehr. Aus ihr leiteten die Intellektuellen indes ihre Autorität ab. Und die erwies sich in den vergangenen politisch aufgewühlten Wochen als schwindsüchtig. Je weniger das Stimmvolk jedoch ihnen Gehör zu schenken bereit war, umso stärker wuchs der Frust im Herzen der Schreibenden, die erkennen mussten, dass ihre Worte kraftlos zu Boden sanken. Es war also nicht erstaunlich, dass eine vergleichbare, auf freiwilliger Basis beruhende Organisation der Schriftsteller, wie das seinerzeit von Grass ins Leben gerufene "Wahlkontor" im heutigen Frankreich auch nicht den Schimmer einer Verwirklichung fand. Ebenso verständlich wird aus dem Obigen, dass die Schriftsteller in unüberhörbares Schweigen versanken und sich dem öffentlichen Dialog fern hielten. An ihre Stelle traten teilweise die Filmemacher, die Schlagersänger und einige bildende Künstler. Sie beleuchteten alle mit polemischem Scheinwerferlicht die Vergangenheit des rechtsextremen Universums und griffen in den letzten Tagen vor der Stichwahl gewisse verhängnisvolle Begriffe aus dem Programm Le Pens auf, etwa die "Internierungslager", die er für illegale Einwanderer einzurichten gedenkt, im Falle eines Sieges des Rechtsaußen. Die selbst verschuldete Ohnmacht der Intellektuellen hatte eine fatale Trübung der Vergangenheitswahrnehmung zur Folge. Dass ein beträchtlicher Prozentsatz von Jungwählern in Unkenntnis der europäischen Vergangenheit im 20. Jahrhundert seine Stimme abgab, macht die gestörte Übermittlung des Gedächtnisses deutlich. Das geschichtliche Erfahrungsfeld hat sich ganz wesentlich verschmälert und mit ihm auch die dazugehörenden Phantasievorstellungen. In früherer Zeit kam den Intellektuellen tatsächlich die Aufgabe der Phantasieerweckung zu; davon war kein Hauch mehr zu spüren. Freilich besitzen heutzutage die Kriterien der Intellektuellen nur noch geringe Überzeugungskraft. Je weiter sich die cybernetische Anziehung die Zuschauenden unterwirft, umso stärker empfinden die davon Unbegünstigten ihre Lebensform rundweg als ungenügend. Wissen als Macht erscheint ihnen als reiner Betrug, der nur ablenkt. In diesem Abgrund von Frust hilft nur eine radikale Änderung. Die beängstigendste Erfahrung, die die Intellektuellen in dieser Lage machen konnten, war die ihrer fortdriftenden Sprache. Die Worte haben der Fremdheit der gesellschaftlichen Zustände gegenüber nicht mehr den gleichen Sinn. So wurde Gewalttätigkeit das Volapük der wirtschaftlich oder politisch Verstoßenen. Auf der anderen Seite konnte nur das Schweigen in dieser Situation Laut geben.